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Bagdad/Baghuz (Syrien)/Berlin/Hamburg. Über dem zerstörten Baghuz in Ostsyrien weht die große gelbe Flagge der Befreier. Kämpfer des Militärbündnisses „Syrische Demokratische Kräfte“ konnten den Ort am linken Ufer des Euphrat am vergangenen Samstag (23. März) nach schweren Gefechten und zuletzt massivem Beschuss einnehmen. Mit der Eroberung der Ruinenlandschaft findet der Krieg gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) im Irak und in Syrien nun nach fast fünf Jahren sein vorläufiges Ende. Es fehlt allerdings nicht an Stimmen, die vor der dschihadistischen Hydra warnen. Außenminister Heiko Maas würdigte am vergangenen Samstag zwar die Befreiung von Baghuz als Paradebeispiel internationaler Zusammenarbeit „innerhalb der Anti-IS-Koalition und mit mutigen Partnern vor Ort“. Dennoch sei klar, so Maas, dass „weiter eine erhebliche Gefahr vom IS ausgeht, der seine Terroraktivitäten in Syrien und Irak in den Untergrund verlagert“. Der Norweger Geir O. Pedersen, Syrienbeauftragter der Vereinten Nationen, hatte vor wenigen Tagen im Sicherheitsrat ebenfalls eindringlich gemahnt: „Der IS ist zwar so gut wie besiegt – was das Territorium angeht. Aber die Erfahrung zeigt, er kann zurückkommen.“

Die Offensive zur Befreiung der letzten IS-Bastion durch die „Syrischen Demokratischen Kräfte“ hatte am 10. Februar begonnen. Die Allianz – 13 militärische Organisationen und Gruppierungen unter Führung der Kurdenmiliz YPG – war im Oktober 2015 für den gemeinsamen Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ gegründet worden.

Die von den USA und der Internationalen Koalition vor allem aus der Luft unterstützten Truppen hatten den IS zunächst auf ein kleines Gebiet zurückgedrängt und eingeschnürt. Zahlreiche Zivilisten, Familienangehörige von Dschihadisten und auch Kämpfer der Terrormiliz waren danach mit Fahrzeugen aus dem Gebiet evakuiert und entweder in Lager der Kurden gebracht oder gefangengenommen worden.

Insgesamt wurde die Zahl der in Baghuz verbliebenen IS-Kämpfer zu Beginn der Schlussoffensive auf 1000 bis 1500 Mann geschätzt. Zahlreiche Selbstmordattentäter hatten sich in dem von Tunneln und Höhlen durchzogenen Gebiet versteckt. Nach Informationen der US-geführten internationalen Anti-IS-Koalition Combined Joint Task Force – Operation „Inherent Resolve“ (CJTF-OIR) waren in den vergangenen Monaten mehr als 60.000 Zivilisten und auch IS-Kämpfer aus Baghuz und den umliegenden Siedlungsgebieten geflohen.

Etwa 110.000 Quadratkilometer vom IS befreit

Nach dem Fall von Baghuz sprach US-General Paul LaCamera, Befehlshaber der Koalitionskräfte CJTF-OIR, von einer „historischen militärischen Leistung“. Seit Beginn der Operationen im Jahr 2014 hätten die Koalition und ihre Partnertruppen etwa 110.000 Quadratkilometer vom IS befreit, sodass 7,7 Millionen Menschen jetzt nicht mehr unter dem blutigen Regime der selbsternannten Gotteskrieger leiden müssten. Nach schweren Straßenschlachten habe man zudem Kobane, Mossul und Rakka zurückgewonnen.

Aber auch LaCamera warnte: „Das Ende des sogenannten physischen Kalifats ist eine historische militärische Leistung, die diese Koalition – bestehend aus 74 Nationen und fünf internationalen Organisationen – vollbracht hat. Aber der Kampf gegen den ,Islamischen Staat‘ und seinen gewalttätigen Extremismus ist noch lange nicht zu Ende.“ Der Generalleutnant appellierte an die Internationale Staatengemeinschaft: „Geben Sie sich keinen Illusionen hin – der IS hat sich seine zerstörerische Kraft bewahrt. Die Dschihadisten werden mit den verbliebenen Kämpfern und ihren Fähigkeiten nun wohl vor allem in den Flüchtlingslagern und in abgelegenen Gebieten abtauchen, um sich dort neu zu organisieren. Sie werden nur auf den richtigen Zeitpunkt warten, um dann wieder zuzuschlagen.“

Der Brite Christopher Ghika, Stellvertretender Kommandeur der CJTF-OIR, erinnerte am gestrigen Montag (25. März) in einem Pressestatement an die vielen Gefallenen im Kampf gegen den Terror. Der Generalmajor: „Der Preis für die militärischen Operationen war enorm: Tausende Angehörige der irakischen Streitkräfte und der Syrischen Demokratischen Kräfte gaben ihr Leben für die Befreiung vom IS. Auch 43 Koalitionsmitglieder starben.“

Sicherheit, Stabilität und integrative Regierungsführung

Ghika gab auch zu bedenken, dass erfolgreiches militärisches Vorgehen allein keinen dauerhaften Frieden bringen könne. Seiner Einschätzung nach könnte der IS jetzt auch versuchen, nach dem Debakel in Syrien wieder in den Irak zurückzukehren und dort erneut Aufstände anzuzetteln. „Die Terroristen haben auf irakischem Boden bereits eine Reihe von Angriffen gegen Gemeindevorsteher, Sicherheitskräfte, kritische Infrastrukturen und Regierungsstandorte gestartet. All dies zielt darauf ab, Stützpfeiler des irakischen Gemeinwesens zu zerstören und die Instabilität zu schaffen, in der die geschwächte Terrorbewegung überleben kann.“

Da die USA sich offenbar bald militärisch aus Syrien zurückziehen wolle, sei es erst recht Sache der Koalition, auch in Zukunft auf die dauerhafte Zerschlagung des IS hinzuarbeiten, so der Brite. Zu diesem Zweck werde auch die Partnerschaft mit den irakischen Streitkräften weiter vertieft. 31 Nationen wollen dabei mithelfen, die Iraker im Kampf gegen die anhaltende Terrorbedrohung zu unterstützen. Generalmajor Ghika erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass seit dem Jahr 2014 fast 200.000 Iraker – „vom Fußsoldaten bis zum Kampfflieger“ – von Koalitionskräften ausgebildet worden seien.

Die vom Joch des „Islamischen Staates“ befreiten Gebiete bräuchten jetzt vor allem Sicherheit, Stabilität und integrative Regierungsführung, meinte Ghika. Nur so könnten jene unglückseligen Bedingungen, die zum Aufstieg der Terrormilizen geführt hätten, vermieden werden.

IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi aus Baghuz geflohen?

Die Dschihadisten-Organisation „Islamischer Staat“ hatte im Sommer 2014 den Gipfel ihrer Macht erreicht, als sie fast ohne Widerstand die nordirakische Millionenstadt Mossul einnehmen konnten. Kurz darauf hatte sie ein „Kalifat“ unter Führung von IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufen, der dabei in einer Moschee Mossuls bei einer Freitagspredigt das bisher einzige Mal in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen war.

Die IS kontrollierte danach eine riesige Region, die sich über große Teile Syriens und des Iraks erstreckte. Mit dem Beginn der internationalen Militärintervention unter Führung der USA verloren die Terroristen jedoch allmählich Teile ihres Herrschaftsgebiets. Mit Luftunterstützung vor allem des Westens konnten lokale Bodentruppen nach und nach ganze Landstriche wieder zurückerobern. Nach monatelangen Kämpfen befreite die irakische Armee schließlich im Sommer 2017 Mossul. Am 9. Dezember 2017 verkündete der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi die Befreiung des Irak vom „Islamischen Staat“. Im Herbst desselben Jahres verloren die Dschihadisten ihre „Hauptstadt“ Rakka in Nordsyrien. Ende 2017 erklärte der Irak den militärischen Sieg über den IS.

In Baghuz nahe der Grenze zum Irak waren bis zuletzt noch IS-Anhänger auf engstem Raum am Ufer des Euphrat-Flusses in einem Zeltlager eingeschlossen. Auch al-Baghdadi soll Medienberichten zufolge in Baghuz gewesen, vor Beginn der Offensive aber in die umliegenden Wüstengebiete geflohen sein.

Hass und Terror auch weiterhin entschlossen bekämpfen

Außenminister Heiko Maas äußerte sich – wie eingangs bereits erwähnt – am 23. März in einer Presseerklärung zum Fall der letzten IS-Bastion in Syrien. In der Erklärung heißt es: „Ein wichtiger Schritt ist getan. Mit der Befreiung von Baghuz konnte [der] IS militärisch so weit zurückgedrängt werden, dass er jetzt kein Gebiet mehr beherrscht. Möglich war das nur durch eine beispiellose internationale Zusammenarbeit – innerhalb der Anti-IS-Koalition und mit mutigen Partnern vor Ort. Ausschlagend für diesen gemeinsamen Erfolg war auch, dass ziviles und militärisches Engagement eng ineinandergegriffen haben. Deutschland hat dazu einen wichtigen Anteil beigetragen.“

Trotz aller militärischer Erfolge müsse das gemeinsame Engagement der Anti-IS-Koalition weitergehen, so Maas. „Aus deutscher Perspektive bleibt die Stabilisierung der von IS-befreiten Gebiete entscheidend. Dafür setzen wir uns in der Anti-IS-Koalition in führender Rolle ein. Diese Arbeit ist noch nicht getan, denn noch ist die menschenverachtende Ideologie [des] IS nicht verschwunden. Wir müssen uns Hass und Terror weiter entschlossen entgegenstellen.“

Das deutsche Engagement umfasst alle Handlungsfelder der internationalen Anti-IS-Koalition: von militärischer Aufklärung, Luftbetankung, zeitweise seegehendem Schutz sowie der Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte über die Arbeit der Koalition gegen IS-Finanzierung, Foreign Terrorist Fighters und Kommunikation bis hin zur Stabilisierung der IS-befreiten Gebiete. Bei der Stabilisierung hat Deutschland als größter Geber in Irak und Syrien und Co-Vorsitz der Arbeitsgruppe „Stabilisierung“ der Anti-IS-Koalition eine führende Rolle übernommen.

Zuletzt wurden Ende 2018 insgesamt 100 Millionen Euro für den Irak (90 Millionen Euro) und Nordost-Syrien (10 Millionen Euro) auf den Weg gebracht. Deutschland unterstützt nach wie vor die irakischen Sicherheitskräfte durch Ausbildung.

Hochbrisante Situation im Flüchtlingscamp al-Hol

Beunruhigende Nachrichten kommen mittlerweile aus den Gebieten der nordsyrisch-kurdischen Selbstverwaltung. Hier im Regierungsbezirk al-Hasaka liegt das Flüchtlingscamp al-Hol, in das Zehntausende vor den letzten Kämpfen gegen den IS geflohen sind. Ursprünglich für rund 10.000 Menschen ausgelegt, drängen sich dort mittlerweile nach Angaben von Hilfsorganisationen mehr als 65.000 Flüchtlinge. Tausende mehr werden in den nächsten Tagen erwartet.

Die Ankommenden seien meist in einem schlechten Zustand, berichtete am vergangenen Freitag (22. März) ein Vertreter von Medico International. In der IS-Zone um Baghuz hätte es kaum noch Nahrungsmittel gegeben. Die weite Flucht durch kalte Winternächte habe die Menschen ausgezehrt. Sie seien unterkühlt und mangelernährt.

Hinzu kommt eine ganz besondere Herausforderung: Nach Medico-Angaben haben viele der geflüchteten Zivilisten unter der Herrschaft im selbsterklärten Kalifat gelitten. Andere Flüchtlinge sind offenbar Angehörige der IS-Kämpfer – zumeist Frauen mit ihren Kindern. Medico: „Diese Personen fliehen also Seite an Seite mit IS-Opfern und suchen ausgerechnet in einer kurdisch geprägten Region Zuflucht, die vom IS jahrelang bekämpft worden ist. Laut dem Rat für humanitäre Aufgaben der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien befinden sich im Augenblick rund 6000 Angehörige von Dschihadisten im Flüchtlingslager al-Hol. Spannungen und Konflikte sind dort unausweichlich.

Etwa 1000 IS-Sympathisanten stammen aus Deutschland

Nach Angaben der Vereinten Nationen starben in den Lagern in Nordsyrien seit Jahresbeginn bereits 25 Kinder ausländischer IS-Anhänger. Unter den mindestens 60 deutschen Kindern, die in nordsyrischen Camps mit ihren Müttern interniert sind, befinden sich einige nach Recherchen des NDR „in einem lebensbedrohlichen Gesundheitszustand“. So beispielsweise die drei Monate alte Maria, die sich im Camp al-Hol befindet. Die Eltern von Maria, die in Baghuz geboren wurde, hatte sich bereits vor längerer Zeit der Terrormiliz IS angeschlossen.

Der NDR weist darauf hin, dass Frankreich zuletzt fünf Kinder aus einem Gefangenenlager in Syrien nach Paris zurückgeholt habe, obwohl die französische Botschaft in Syrien seit Jahren geschlossen sei. Bei den Kindern handele es sich nach offiziellen Angaben um Halb- und Vollwaisen französischer IS-Anhänger. Deutschland plane solche Rückholaktionen nach jetzigem Stand nicht.

Auf Anfrage zu der Situation der deutschen Kinder habe das Auswärtige Amt nur allgemein geantwortet, so der NDR. Man habe mitgeteilt, dass die Bundesregierung „mögliche Optionen, um deutschen Staatsangehörigen – auch in humanitären Fällen – eine Rückführung nach Deutschland zu ermöglichen, prüfe“. Man versuche außerdem, „deutschen Staatsangehörigen, insbesondere Kindern, in prekären Einzelfällen über Partnerorganisationen, die in den Flüchtlingslagern vor Ort tätig sind, die erforderliche medizinische Hilfe vor Ort zukommen zu lassen“. Von Deutschland aus sind etwa 1000 Sympathisanten des „Islamischen Staates“ in den Krieg nach Syrien und in den Irak gezogen.


Zu unserer Bildfolge:
1. Kurdischer Kämpfer am 18. März 2019 vor Baghuz, der letzten IS-Bastion in Syrien.
(Videostandbild: Quelle YouTube/Filmbeitrag YPG Press Office)

2. Schwerer Beschuss von Baghuz am Vorabend des 23. März 2019.
(Bild: nr)

3. Kämpfer des IS aus Baghuz, die sich den kurdischen Milizen ergeben haben.
(Videostandbild: Quelle YouTube/Filmbeitrag YPG Press Office)

4. Generalleutnant Paul LaCamera, Befehlshaber der Combined Joint Task Force – Operation „Inherent Resolve“.
(Foto: CJTF-OIR PAO)

Kleines Beitragsbild: Menschen verlassen vor Beginn der Schlussoffensive gegen den IS die Ortschaft Baghuz und die umliegenden Siedlungen.
(Videostandbild: Quelle YouTube/Filmbeitrag YPG Press Office)

 


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