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Regensburg. Ulrich Krökel, freier Osteuropa-Korrespondent, sorgt sich: 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges feiern europa- und weltweit nationale Kräfte eine bedenkliche Renaissance. „Nichts gelernt und nichts begriffen?“ – dieser Frage ging Krökel am 25. August in seinem Leitartikel für die in Regensburg erscheinende Mittelbayerische Zeitung nach. Wir übernehmen den Beitrag, der eher schon einem Appell gleicht, in unserer Rubrik „Aus fremder Feder“ mit freundlicher Genehmigung der dpa-Tochter news aktuell.


Ulrich Krökel, Mittelbayerische Zeitung: Lässt sich aus der Geschichte lernen? Die Frage ist so uralt wie offen. „Theoretisch ja, praktisch nein“, lautet eine Antwort, für die es ungezählte empirische Belege gibt.

Da wären zum Beispiel die fundamentalen Lehren, die sich aus der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs ziehen ließen, der faktisch schon mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 eröffnet wurde. Direkt danach lief die deutsche Kriegsmaschinerie an. 80 Jahre ist es in diesen Tagen her, dass zwei Diktatoren und Massenmörder den Osten Europas mit ein paar Strichen auf einer Landkarte untereinander aufteilten. Im Kreml stieß man mit Sekt darauf an.

Wenig später überfiel die Wehrmacht Polen und eröffnete ihren Vernichtungsfeldzug gegen die eigenen Nachbarn, in denen die Nazis allerdings nichts als slawische Untermenschen sahen, was sie im Übrigen nicht davon abhielt, mit Stalin zu paktieren. Die Sowjetarmee marschierte kurz darauf in ihre „Einflusszone“ ein, im Baltikum und in Ostpolen. Das historische Urteil ist eindeutig: Im Spätsommer 1939 nahm nicht nur ein einzigartiges Menschheitsverbrechen seinen Lauf, das Geschehen kam auch einer brutalen Vergewaltigung jedes Völkerrechts gleich. Und die Moral von der Geschichte?

Niemals wieder, so könnte man die zentrale Lektion formulieren, dürfen stärkere Staaten in reiner Willkür über das Schicksal schwächerer Nationen entscheiden. Macht darf niemals vor Recht gehen, auch nicht zwischen den Völkern. Es ist ein klarer und recht simpler Lehrsatz, der in der praktischen Politik des frühen 21. Jahrhunderts aber kaum eine Rolle spielt.

Man erinnere sich nur an den Einmarsch von US-Truppen im Irak im Frühjahr 2003, der mit dreisten Lügen über Massenvernichtungswaffen legitimiert wurde. In Wahrheit ging es auch nur am Rande darum, das diktatorische Regime eines Saddam Hussein zu stürzen. In erster Linie ging es um die Sicherung von Macht und Einfluss in der rohstoffreichen Region.

Oder man denke an Russland, das im Jahr 2014 nach einem offen völkerrechtswidrigen Eroberungskrieg die ukrainische Krim annektierte – ein Landraub wie aus dem Lehrbuch des Imperialismus. Schon lange vorher hatten die Machthaber in Moskau die postsowjetischen Staaten zum „nahen Ausland“ erklärt und damit zur russischen Einflusszone.

Und dann wäre da noch das finstere Treiben des diktatorisch regierten China, das in Hongkong, Tibet oder Taiwan die Rechte der Schwächeren schlicht leugnet. Hinzu kommen weltweite Infrastrukturprojekte wie die Neue Seidenstraße, mit denen sich das wirtschaftlich so rasant erstarkte Reich der Mitte vor allem eines sichert: Macht und Einfluss.

Da will ein Donald Trump natürlich nicht zurückstehen. Dass der Geschäftsmann im Weißen Haus, der den Dollarregen dem Bombenhagel vorzieht, gern Grönland kaufen würde, ist weit mehr als absurdes Theater. Dem US-Präsidenten ist es durchaus ernst mit seiner Idee, sich die potenziell rohstoffreiche Region anzueignen, die dank des von ihm selbst befeuerten Klimawandels zu einem neuen Eldorado werden könnte. Die Autonomie der Ureinwohner ist Trump offensichtlich völlig egal.

Nicht zuletzt denke man aber auch an all die Orbáns, Salvinis und Johnsons in Europa, die darauf bestehen, dass der Nationalstaat das einzig selig machende politische Konstrukt ist. Vor diesem Hintergrund bleibt nur die bittere Erkenntnis, dass der Multilateralismus, also der friedliche Interessenausgleich zwischen Staaten, 80 Jahre nach dem „Teufelspakt“ von Moskau dramatisch auf dem Rückzug ist. Was wir aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts theoretisch hätten lernen können, ignorieren wir in der Praxis. Wir haben rein gar nichts begriffen!


Randnotiz                                  

Die Mittelbayerische Zeitung ist eine regionale Tageszeitung mit Sitz in Regensburg, erstmals erschienen am 23. Oktober 1945. Sie gehört zur Unternehmensgruppe Mittelbayerischer Verlag KG.
Ulrich Krökel, geboren 1968 in Braunschweig, studierte Slawistik und Osteuropäische Geschichte in Kiel, Sankt Petersburg und im sibirischen Irkutsk. Seit dem Jahr 2000 arbeitete er zunächst als Nachrichtenredakteur für norddeutsche Tageszeitungen. Seit 2010 ist Krökel freier Osteuropa-Korrespondent für rund 20 Print- und Online-Medien in Warschau und Berlin.


Symbolbild „Presselandschaft“ aus dem Bildangebot von Pixabay.
(Foto: Michael Gaida/freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis erforderlich)

Kleines Beitragsbild: Symboldarstellung „Zeitungen“ aus dem Bildangebot von Pixabay.
(Foto: kalhh/freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis erforderlich; grafische Bearbeitung mediakompakt)


Kommentare

  1. Dr.-Ing. U. Hensgen | 30. August 2019 um 11:33 Uhr

    Leider hat der Mann Recht. Wir scheinen lernunfähig zu sein. Ein sehr guter Artikel, der auch verdeutlicht, das jeglicher Egoismus und Extremismus zu verurteilen ist (dabei ist es gleichgültig, ob der Extremismus braun, rot, grün oder religiös ist)!

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