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Arlington (Virginia, USA)/Kabul (Afghanistan). Ja, das Fass ohne Boden gibt es tatsächlich. Man findet es überall in Afghanistan. Neue Kraftwerke, die gerade mal ein Prozent ihrer erwarteten Leistung schaffen. Schulneubauten, denen die Schüler fehlen. Halbfertige Bauprojekte, die lange schon keinen Arbeiter mehr gesehen haben. Neue Klinikräume, an den Wänden und in den Fußböden schon wieder dicke Risse. Aus dem Fass ohne Boden sind in Afghanistan in den vergangenen zehn Jahren rund 15,5 Milliarden US-Dollar versickert. Verschwendung, Betrug und Misswirtschaft haben dabei die dicken Löcher gebohrt, aus denen die Hilfsgelder der amerikanischen Steuerzahler abfließen konnten. Zu diesem niederschmetternden Ergebnis kommt John F. Sopko, der US-Kontrolleur für den Wiederaufbau Afghanistans (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction, SIGAR).

Sopko, seit 2012 Leiter des Aufsichtsgremiums des US-Senats für die Hilfe in Afghanistan, beantwortete am 17. Juli eine entsprechende Anfrage von drei Abgeordneten des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten. Die beiden Republikaner Walter B. Jones und Tim Walberg sowie Peter Welch von den Demokraten hatten am 27. September vergangenen Jahres von SIGAR eine Komplettübersicht über die seit 2008 (Anm.: Gründungsjahr der Aufsichtsbehörde) in Afghanistan verschwendeten Geldmittel erbeten.

Die Arbeit von SIGAR sei umso bedeutsamer für den amerikanischen Steuerzahler, seit die Trump-Administration eine Fortsetzung des amerikanischen Engagements am Hindukusch beschlossen habe, schreiben die Kongressabgeordneten Jones, Walberg und Welch.

Gelder für fast 30 Prozent der überprüften Hilfsprojekte verschwunden

Wie aus dem SIGAR-Dokument an die Parlamentarier hervorgeht, wurden für den Zeitraum 2008 bis 31. Dezember 2017 amerikanische Hilfsprojekte in Afghanistan im Gesamtwert von rund 52,7 Milliarden US-Dollar geprüft. Das Gesamtaufkommen der in diesem Zeitraum von den USA zur Verfügung gestellten Hilfsgelder betrug laut SIGAR insgesamt 126 Milliarden Dollar.

29,5 Prozent der von SIGAR kontrollierten Projekte sind nach Erkenntnissen der Aufsichtsbehörde quasi „verbrannt“ worden. Durch unkontrollierte Verschwendung, unentdeckte Betrügereien und ungehinderten Missbrauch konnten in Afghanistan so 15,5 Milliarden Dollar Hilfsgelder „spurlos verschwinden“.

Im Zeitraum 2008 bis Ende 2017 durchleuchteten die Mitarbeiter des Sopko-Amtes 764 Hilfsprojekte. In 643 Fällen wurden Verschwendung, Betrug oder Missbrauch im Empfängerland aufgedeckt.

Wachsende Korruption, Zulauf für die Aufständischen und Drogenboom

Besonders frustrierend sind Fehlentwicklungen dort, wo Steuergelder aus den USA in Afghanistan langfristig für mehr Sicherheit hätten sorgen sollen. So musste SIGAR in der Vergangenheit immer wieder feststellen, dass die von den Amerikanern bislang investierten 4,7 Milliarden Dollar für „Stabilisierungsprogramme“ letztendlich doch nur „zu einer Konfliktverschärfung, Zunahme an Korruption und verstärkter Unterstützung für die Aufständischen“ führten.

Auch haben die rund 7,3 Milliarden Dollar, die von den USA zur Eindämmung des afghanischen Drogenanbaus und Drogenhandels aufgewendet wurden, nur sehr wenig dazu beigetragen, „die Produktion und den Export illegaler Drogen zu stoppen“.

Massiver Kontrollverlust bereits vor gut acht Jahren

Das Phänomen unkontrolliert nach Afghanistan fließender und dort sich verflüchtigender amerikanischer Entwicklungshilfe ist nicht neu. So berichtete beispielsweise die französische Nachrichtenagentur AFP im Oktober 2010, dass die USA nicht zurückverfolgen könnten, ob ihre Hilfsgelder in Höhe von 17,7 Milliarden Dollar in Kabul und in den afghanischen Provinzen auch ordnungsgemäß verwendet wurden. Wie der damalige SIGAR-Chef Arnold Fields in einem Bericht schrieb, sei „dieses Geld zwischen 2007 und 2009 an insgesamt 7000 Auftragnehmer“ vergeben worden.

Die Fields-Studie kritisierte 2010, dass die mangelhafte Dokumentation über den Verbleib der Hilfsgelder bis zum Beginn des afghanischen Wiederaufbaus im Jahr 2002 zurückreiche. Eine eingehendere Prüfung sei aber nicht möglich, da große Teile der vor 2007 verfügbaren Daten zu schlecht für eine Analyse gewesen seien, so Fields seinerzeit. Sein Bericht zeige, dass die „Navigation im verwirrenden Labyrinth der Regierungsaufträge bestenfalls schwierig ist“. Eine entmutigende Analyse – man könnte meinen, die Zeit sei stehengeblieben!

Zügellose Verschwendung von Steuergeldern nicht länger hinnehmen

Mittlerweile haben die Kongressabgeordneten Jones, Walberg und Welch auf die SIGAR-Ergebnisse reagiert. In einem gemeinsamen Pressestatement, das am gestrigen Donnerstag (26. Juli) veröffentlicht wurde, erklärte der Republikaner Jones: „Tragischerweise sind die rund 15,5 Milliarden US-Dollar offenbar nur ein Teil der insgesamt verschwendeten Finanzmittel. Es steht zu befürchten, dass der Schaden noch wesentlich größer ist.“ Und: „Das amerikanische Volk muss erfahren, wohin sein Geld fließt – in das Schwarze Loch, bekannt als Afghanistan.“

Sein Parteikollege Walberg ergänzte: „Wie der SIGAR-Bericht belegt, werden die Wiederaufbauprogramme in Afghanistan seit Jahren schon miserabel umgesetzt. Dieses Maß an Verschwendung ist einfach erschütternd und schlicht inakzeptabel. Wir brauchen mehr Kontrolle über diese Steuergelder.“

Demokrat Welch erinnerte in der gemeinsamen Pressemitteilung daran: „Wir sind jetzt bereits 17 Jahre in diesem scheinbar endlosen Krieg in Afghanistan gefangen. Der SIGAR-Bericht lässt erahnen, welche enormen menschlichen und zugleich finanziellen Belastungen Afghanistan für uns bedeutet.“ Er beglückwünsche das Büro des Generalinspekteurs für den afghanischen Wiederaufbau zu den „beharrlichen Bemühungen, die zügellose Verschwendung und den Betrug bei den Ausgaben“ am Hindukusch aufzudecken. Nun müsse der US-Kongress endlich dafür sorgen, dass dies beendet werde.

Die drei Kongressmitglieder haben inzwischen weitere acht Sonderbevollmächtigte des Kongresses, die mit der Kontrolle von Staatsausgaben im Zusammenhang mit militärischen Auslandsmissionen der USA betraut sind, angeschrieben und um Informationen gebeten.


Unsere Bildfolge dokumentiert gravierende Missstände in Afghanistan, die von SIGAR-Mitarbeitern im Laufe der vergangenen Jahre aufgedeckt worden sind:
1. Das im Mai 2010 offiziell in Dienst gestellte Dieselkraftwerk Tarakhil nahe Kabul, gebaut für 335 Millionen US-Dollar, ist und bleibt eines der größten Fehlprojekte der USA in Afghanistan. Wie SIGAR feststellte, arbeitet das Kraftwerk bislang zumeist nur mit „weniger als einem Prozent“ der ursprünglich geplanten Kapazität.
(Foto: Jack Whippen/Black and Veatch/SIGAR)

2. Die USA investierten in Afghanistan rund 7,3 Milliarden Dollar zur Eindämmung des Drogenanbaus und des Drogenhandels. Laut SIGAR liefen alle Anstrengungen, die „Produktion und den Export illegaler Drogen“ zu stoppen, bisher ins Leere. Die Opiumproduktion in Afghanistan ist heute auf dem höchsten Stand seit 2002.
(Foto: UNODC/SIGAR)

3. Unvollendeter Hotel-Neubau im Oktober 2016 – Blick in die Lobby. Auch für dieses Projekt flossen amerikanische Steuergelder.
(Foto: SIGAR)

4. Als SIGAR-Vertreter am 5. November 2015 diese Schule im Distrikt Kishidih in der afghanischen Nordprovinz Balkh besuchten, war keines der mehr als 1000 registrierten Schulkinder vor Ort. Das mit amerikanischer Hilfe errichtete Schulzentrum war völlig verlassen.
(Foto: SIGAR)

5. Am 1. März 2011 fotografierte eine SIGAR-Delegation den maroden Rohbau des damals geplanten neuen Justizgebäudes für die Parwan-Provinz. Die Konstruktion des zwei Jahre zuvor begonnenen Bauprojekts war zum Zeitpunkt der Kontrolle völlig instabil, der Beton brüchig, das Metall verrostet. Rund 396.000 Dollar waren bis dahin bereits in das „Gebäude“ geflossen.
(Foto: SIGAR)

6. John F. Sopko – das Bild zeigt ihn im April 2013 bei einer Kongressanhörung – ist seit dem 2. Juli 2012 US-Sonderbeauftragter für den Aufbau in Afghanistan. Der Chef von SIGAR (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction) war vor Übernahme dieses Amtes Partner in der renommierten Anwaltskanzlei Akin Gump Strauss Hauer & Feld LLP in Washington.
(Foto: SIGAR)

Kleines Beitragsbild: Ein von SIGAR beauftragter Experte prüft Arbeitsergebnisse am neuen Gebäudekomplex des afghanischen Verteidigungsministeriums in Kabul. Geschätzte Gesamtkosten des Bauvorhabens: 228,5 Millionen Dollar. Die Aufnahme stammt vom 16. Januar 2015.
(Foto: SIGAR)


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