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Berlin. Rund 300 Parlamentsabgeordnete aus 57 Staaten nehmen vom 7. bis 11. Juli in Berlin an der 27. Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (PV OSZE/Organization for Security and Co-operation in Europe, OSCE) teil. Gastgeber ist der Deutsche Bundestag. Die OSZE ist eine im Jahr 1995 aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hervorgegangene zwischenstaatliche Institution. Ihr Ziel ist es, „Bedingungen für ein friedliches Miteinander von mehr als einer Milliarde Menschen in demokratischen und stabilen Strukturen zu schaffen“.

Die Teilnehmer der diesjährigen Tagung, die unter dem Generalthema „Umsetzung der OSZE-Verpflichtungen: Die Rolle der Parlamente“ steht, nehmen am Sonntagnachmittag ihre Arbeit in drei Ausschüssen auf. Die Schwerpunkte dort: „Politische Angelegenheiten und Sicherheit“, „Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie und Umwelt“ sowie „Demokratie, Menschenrechte und humanitäre Fragen“. Ziel der 27. Jahrestagung der PV OSZE ist es, am Ende die „Berliner Erklärung“ zu verabschieden.

Europäische Sicherheitsarchitektur muss umfassend reformiert werden

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Doris Barnett leitet die Delegation des Deutschen Bundestages bei dieser Veranstaltung. In einem Interview mit der Wochenzeitung Das Parlament (Erscheinungstag 9. Juli) sagt sie: „Die europäische Sicherheitsarchitektur ist in die Jahre gekommen und muss umfassend reformiert werden.“ Zum einen stehe man vor neuen technologischen Herausforderungen, zum anderen bestehe heute kein Konsens mehr über die Grundsätze der sicherheitspolitischen Ordnung. Nach wie vor aktuell seien jedoch die zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki.

Barnett warnte davor, dass die Aufstockung beim deutschen Verteidigungsetat kein Selbstzweck werden dürfe. Gleichzeitig forderte sie: „Wir benötigen dringend neue Ideen und Initiativen für Entspannung, Rüstungskontrolle und Abrüstung.“ Der „Strukturierte Dialog“ der OSZE über wechselseitige Bedrohungswahrnehmungen biete hierfür gute Chancen.

Wir veröffentlichen das Interview mit Doris Barnett, die seit 1994 Mitglied des Bundestages ist, schon heute vorab mit freundlicher Genehmigung der Berliner Redaktion.

Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Sicherheit und Zusammenarbeit

Frau Barnett, die Parlamentarische Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit tagt bis zum kommenden Mittwoch in Berlin. Wo liegen die Schwerpunkte und was hat es mit der „Berliner Erklärung“ auf sich, die bei dem Treffen verabschiedet werden soll?
Doris Barnett: Bei der Jahrestagung diskutieren wir über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen im Bereich der Sicherheit und Zusammenarbeit. Insbesondere geht es dabei um die Rolle der Parlamente bei der Umsetzung der OSZE-Verpflichtungen. In den drei Allgemeinen Ausschüssen der Parlamentarischen Versammlung wurden dazu Entschließungsentwürfe vorbereitet. Sie sprechen eine breite Palette an Tendenzen, Problemen und Aufgaben an: Von der Reform des Sicherheitssektors und Abrüstung über die Digitalisierung und ökologische Folgen bewaffneter Konflikte bis hin zur Zunahme unprofessioneller Wahlbeobachtung und Regulierung des Internets. In der „Berliner Erklärung“ fassen wir schließlich unsere Einschätzungen und Empfehlungen zusammen und richten sie an den Ministerrat der OSZE.

Die zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki sind nach wie vor gültig

Die OSZE wurde im Kalten Krieg gegründet, um für Sicherheit in Europa zu sorgen. Viele Vereinbarungen sind aber entweder veraltet oder werden unterlaufen. Kann denn die Organisation ihre Aufgabe noch erfüllen?
Barnett: Die europäische Sicherheitsarchitektur ist in der Tat in die Jahre gekommen und muss umfassend reformiert werden. Zum einen stehen wir vor neuen technologischen Herausforderungen, zum anderen besteht heute kein Konsens mehr über die Grundsätze der sicherheitspolitischen Ordnung. Aber die zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki sind nach wie vor aktuell: etwa die Unverletzlichkeit der Grenzen, die friedliche Regelung von Streitfällen, Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dazu haben wir bisher keine überzeugende Alternative. Auch der umfassende Sicherheitsbegriff – der politisch-militärische, wirtschaftliche, ökologische und humanitäre Aspekte der Sicherheit einschließt – hat sich als unabdingbar erwiesen. Gerade in den letzten Jahren sind die Stärken der OSZE als Plattform für Dialog wieder deutlich geworden.

Bei der russischen Annexion der Krim und beim fortgesetzten Konflikt in der Ostukraine handelt es sich um fundamentale Verletzungen von OSZE-Prinzipien. Lässt sich nach einem solchen Bruch überhaupt neues Vertrauen aufbauen und wie kann das geschehen?
Barnett: Vertrauensbildung ist ein sehr komplexer Prozess. Die Einhaltung der beschlossenen Vereinbarungen ist dabei eine der wichtigsten Voraussetzungen. Da bleiben wir bei unseren Forderungen. Wir müssen aber auch über die Unterschiede in der Interpretation von Ereignissen und in der Wahrnehmung von Bedrohungen und Risiken reden. Wichtig ist es außerdem, mehr Transparenz zu schaffen. Hierzu soll auch der sogenannte „Strukturierte Dialog“ beitragen – ein OSZE-Format, das 2016 während des deutschen OSZE-Vorsitzes initiiert wurde. Der „Strukturierte Dialog“ findet auf exekutiver Ebene statt und ermöglicht es, eine solide Faktenbasis zu entwickeln und die Perzeptionsdifferenzen aufzuzeigen. Wir Parlamentarier leisten aber auch unseren Beitrag zur Vertrauensbildung, unter anderem, indem wir uns über verschiedene Narrative austauschen und nach gemeinsamem Nenner suchen.

Streitkräfte der veränderten internationalen Sicherheitslage anpassen

Inwieweit steht das NATO-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung und Verteidigung auszugeben, im Widerspruch zum Geist von Helsinki und zur Charta von Paris? Was kann die OSZE tun, um eine drohende Rüstungsspirale in Europa abzuwenden?
Barnett: Wir brauchen ein modernes, funktionstüchtiges Militär und müssen unsere Streitkräfte der veränderten internationalen Sicherheitslage anpassen. Andererseits darf die Aufstockung des Wehretats kein Selbstzweck werden. Wir benötigen dringend neue Ideen und Initiativen für Entspannung, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Der bereits erwähnte „Strukturierte Dialog“ der OSZE bietet hierfür gute Chancen.

Parlamentarische Versammlung entwickelt neue Wege zur Verständigung

Außenpolitik besteht in erster Linie in exekutivem Handeln, was kann die Diplomatie von Parlamentariern ergänzend oder daneben bewirken?
Barnett: Verglichen mit der Diplomatie auf Regierungsebene steckt die parlamentarische Diplomatie noch in Kinderschuhen. In der Parlamentarischen Versammlung der OSZE entwickeln wir neue Wege zur Verständigung. In Situationen, in denen schon die Regierungen der Teilnehmerstaaten an ihre Grenzen stoßen, sind wir Parlamentarier oft in der Lage, den Dialog zwischen Konfliktparteien aufrechtzuerhalten. Um Konflikte zu lösen oder zu verhindern, braucht es Bemühungen aller Akteure: Regierungen, Parlamentarier, Zivilgesellschaft und auch Wirtschaft.

Ist die Arbeit der OSZE und ihrer Parlamentarischen Versammlung im Bundestag aus Ihrer Sicht angemessen repräsentiert oder sehen Sie hier Verbesserungsbedarf?
Barnett: In den letzten Jahren genießt die OSZE wieder eine größere öffentliche Aufmerksamkeit. Auch im Bundestag beobachte ich immer mehr Interesse an der Tätigkeit der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Aber da ist noch Luft nach oben. Deswegen habe ich für die Jahrestagung in Berlin eine Resolution eingebracht, in der ich meine Kollegen Parlamentarier dazu auffordere, die Arbeit der Versammlung in ihren nationalen Parlamenten sichtbarer zu machen. Denn ohne Parlamente können die OSZE-Verpflichtungen nicht umgesetzt werden.


Hintergrund                           

Am Anfang stand die Charta von Paris. Mit ihr riefen Staatsoberhäupter und Regierungschefs aus 34 Mitgliedstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) im Jahr 1990 „in Anerkennung der wichtigen Rolle, die Parlamentarier im KSZE-Prozess spielen können“, die Abgeordneten aller KSZE-Mitgliedstaaten dazu auf, sich zu organisieren. So sollte auch auf parlamentarischer Ebene das bereits 1975 mit der Schlussakte von Helsinki vereinbarte Ziel verfolgt werden, im Kalten Krieg als Forum für Dialog und Verhandlungen zwischen Ost und West zu dienen.
1991 setzten Parlamentarier aus allen KSZE-Staaten mit der Erklärung von Madrid die Gründung der Parlamentarischen Versammlung der KSZE in die Tat um. Ein Jahr später fand die erste Jahrestagung in der ungarischen Hauptstadt Budapest statt.
1995 wurde aus der KSZE die OSZE. Die Umbenennung in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa dokumentierte den Wandel von einem Konferenzformat hin zu einer ständigen Institution. Das galt auch für die Parlamentarische Versammlung der OSZE (PV OSZE), deren internationales Sekretariat seinen Sitz in Kopenhagen hat.

Die PV OSZE repräsentiert mit ihren mittlerweile 57 Teilnehmerstaaten alle europäischen Länder, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die USA und Kanada. Zudem arbeitet die PV eng mit elf Kooperationspartnern aus Asien und dem Mittelmeerraum zusammen.
Ziel der 323 Abgeordneten der PV ist vor allem, demokratische Institutionen in den Staaten zu stärken. Ebenso geht es darum, Mechanismen zur Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung zu entwickeln und zu fördern, und so den gesamteuropäischen Sicherheitsdialog und das regionale Krisenmanagement der OSZE zu unterstützen. Daneben arbeiten die Parlamentarier an der Entwicklung der institutionellen Strukturen der OSZE und am Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den bestehenden OSZE-Institutionen mit. Hierzu unterhält die Versammlung ein Verbindungsbüro in Wien.


Zu unserem Bildmaterial:
1. Die Fahne der OSZE vor dem Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages. Der Bundestag ist vom 7. bis zum 11. Juli 2018 zum zweiten Mal nach 2002 Gastgeber der Parlamentarischen Versammlung (PV) der OSZE.
(Foto: OSZE/unter Lizenz CC BY-SA 2.0 – vollständiger Lizenztext:
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/legalcode)

2. Doris Barnett, Leiterin der deutschen Delegation in der PV der OSZE, am 29. Juni 2018 im Studio des Parlamentsfernsehens. Dort gab die SPD-Politikerin ein Interview über die Themenschwerpunkte der anstehenden Jahrestagung, die später dann auch Gegenstand der geplanten „Berliner Erklärung“ sein werden.
(Foto: Achim Melde/Deutscher Bundestag)

Kleines Beitragsbild: Das Symbolfoto zeigt Angehörige der OSZE-Sonderbeobachtermission in der Ukraine am 15. Dezember 2016.
(Foto: Evgeniy Maloletka/OSZE)


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