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Berlin/Kabul (Afghanistan)/Arlington (Virginia, USA). Im Bundesministerium der Verteidigung gibt es momentan Überlegungen, eventuell mehr Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan zu entsenden. Dies berichtete bereits am 7. Oktober Matthias Gebauer für Spiegel online. Die gefährliche Lage im Einsatzland habe die militärische Führung laut über eine personelle Aufstockung des deutschen Kontingents für die Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission (Resolute Support Mission, RSM) nachdenken lassen, so das Magazin. Wie miserabel die Gesamtsituation am Hindukusch ist, dokumentiert auch ein aktueller Bericht des Sonderbeauftragten des US-Senats für den Wiederaufbau Afghanistans, John F. Sopko. In dem am 29. September erschienenen Report des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), in dem es um die afghanischen Sicherheitskräfte geht, finden sich wenig optimistische Aussagen. Im Gegenteil!

Der SIGAR-Bericht „Reconstructing the Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF): Lessons from the U.S. Experience in Afghanistan“ (frei übersetzt: „Aufbau der nationalen afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte: Was wir von den amerikanischen Erfahrungen in Afghanistan lernen können“) listet eine ganze Reihe gravierender Fehler und Fehlentwicklungen seit Beginn des Afghanistankrieges am 7. Oktober 2001 auf.

Dabei zieht sich wie ein roter Faden durch die von SIGAR formulierte Mängelliste, dass sich die Prioritäten, die vor 16 Jahren den Angriff der USA und ihrer Verbündeten als Reaktion auf die 9/11-Terroranschläge leiteten, mittlerweile oft nur noch negativ beim Aufbau langfristiger ANDSF-Kapazitäten auswirken. Wohl auch deshalb dauert der militärische Konflikt mit den Taliban und anderen Regierungsgegnern bis heute an.

Militärangehörige ohne jegliche fundierte Ausbildung

SIGAR-Chef Sopko hatte bereits am 21. September erste Eckpunkte aus dem alarmierenden Bericht präsentieren können. Seine Bilanz bei einer Veranstaltung des Zentrums für strategische und internationale Studien (Center for Strategic and International Studies, CSIS) in Washington D.C. ist desillusionierend: „Die afghanischen Sicherheitskräfte leiden unter Fluktuation, Korruption, fehlender Ausrüstung, mangelhafter Ausbildung, unzureichenden Sicherheitsinfrastrukturen und weitverbreitetem Analphabetismus.“

Besonders der massive Personalschwund wirke sich lähmend auf viele Bereiche der ANDSF aus. Lediglich afghanische Spezialeinheiten verzeichneten eine geringe Fluktuation und hohe Rekrutierungsraten. Nach Sopkos Angaben sei der personelle Abgang von Kräften in der Armee des Landes im Jahreszeitraum 2013 bis 2016 besonders hoch gewesen: pro Jahr hätte etwa ein Drittel der Soldaten ihren Einheiten den Rücken gekehrt. „Eine solch gewaltige Fluktuation führt zwangsläufig zu einem Militärkader mit wenig bis keinerlei fundierter Ausbildung“, so der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan.

Die fatale Erblast von mehr als drei Jahrzehnten Krieg und Leid

Der Bericht der in Arlington/Virginia ansässigen Kontrollbehörde spart nicht mit grundlegender Kritik am Engagement der USA in Afghanistan. So heißt es beispielsweise: „Den Vereinigten Staaten ist es nicht gelungen, die Komplexität und das Ausmaß dieser Mission zu erfassen. Dies wäre aber zwingend erforderlich gewesen, will man in einem Land, das mittlerweile mehr als 30 Jahre lang unter Krieg, Missherrschaft, Korruption und tiefer Armut leidet, erfolgreich Sicherheitskräfte aufstellen und betreuen.“ Und: „Die amerikanischen Pläne zur Erreichung der Einsatzbereitschaft der ANDSF sind alle unter politisch limitierten Zeitvorgaben erstellt worden. Sinnvoller wäre es gewesen, die afghanischen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen.“

Insgesamt stellen die Autoren des SIGAR-Reports den politisch Verantwortlichen in Washington kein gutes Zeugnis aus: „Die US-Regierung tat und tut sich schwer damit, komplexe Missionen zur Unterstützung von Sicherheitssektorreformen [die darauf abzielen, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen und Rechtsstaatlichkeit zu garantieren] in Post-Konfliktgesellschaften oder Entwicklungsländern durchzuführen.“

Stets zu wenig Personal für die „Resolute Support Mission“

Es gäbe noch zahlreiche Kritikpunkte aus dem 283 Seiten starken Dokument, die wir aufgreifen könnten. Belassen wir es bei diesen: SIGAR fand heraus, dass die Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan – die „Resolute Support Mission“ – „chronisch mit zumeist mehr als 50 Prozent unterbesetzt war“. Die Behörde rügt auch, dass sich frühe US-Partnerschaften mit unabhängigen afghanischen Milizen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung letztendlich beim Aufbau einer Nationalarmee und Nationalpolizei als kontraproduktiv erwiesen hätten. Als äußerst nachteilig, so SIGAR, habe sich auch die lange Zeit praktizierte Vernachlässigung von Schlüsselfähigkeiten für die im Aufbau befindlichen ANDSF – etwa das Verwaltungswesen, das Nachrichtenwesen, der Bereich der Spezialkräfte oder die Komponente „Luftmacht“ – ausgewirkt.

Bedauernswert sei auch, dass der ständige Wechsel beim Ausbildungspersonal dauerhafte Lernerfolge verhindere. Auch sei durch diese Personalwechsel eine effektive Überwachung und eine vernünftige Evaluierung der Ausbildungsgänge nur schwer möglich, heißt es in dem Bericht weiter. Bedenklich sei zudem, dass der Einsatz bei einer Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission von vielen Militärangehörigen als wenig Karriere fördernd empfunden und deshalb nach Möglichkeit vermieden werde. Dies führe dazu, dass auch bei der „Resolute Support Mission“ in Afghanistan immer wieder neue und unerfahrene Kräfte zur Ausbildung der Afghanen eingesetzt würden.

US-General Nicholson spricht von „Pattsituation“ in Afghanistan

Schonungslos beschreibt auch ein 21 Seiten starker „Special Report“ der Parlamentarischen Versammlung der NATO die momentane Situation am Hindukusch. (Anm.: Die Parlamentarische Versammlung der NATO, ins Leben gerufen 1955, ist ein sicherheits- und verteidigungspolitisches Diskussionsforum mit Abgeordneten aus den 29 Mitgliedsländern des Bündnisses. Delegierte aus assoziierten Staaten und Partnerstaaten können an den Versammlungen teilnehmen.)

Der am 1. September veröffentlichte Berichtsentwurf (er stammt von dem SPD-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Hellmich, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Bundestages) beginnt mit einer Lagebeurteilung von RSM-Befehlshaber John W. Nicholson Jr. vor dem US-Kongress. Dort hatte der amerikanische General am 9. Februar dieses Jahres von einer „Pattsituation“ in Afghanistan gesprochen, die alle Konfliktparteien in eine Sackgasse geführt habe. Das Land sehe sich derzeit konfrontiert „mit wiedererstarkten Aufständischen“ und müsse zugleich erleben, wie staatliche Institutionen „durch interne Machtkämpfe und durch Korruption“ nachhaltig geschwächt würden.

Den afghanischen Sicherheitskräften bescheinigt das Papier große Defizite in den Bereichen „Führung, ISR (Intelligence, Surveillance, Reconnaissance/Nachrichtendienst, Überwachung, Aufklärung), Logistik und Luftunterstützung.“ Außerdem wirke sich die grassierende Korruption negativ auf die Moral und Kampfkraft der Truppe aus, heißt es weiter. Große Sorgen bereiteten auch die gestiegenen Verlustzahlen der ANDSF, die hauptsächlich durch Feuergefechte sowie Sprengfallen und Minen verursacht würden. Ein schwerwiegendes Problem stellten nach wie vor die sogenannten „Insiderattacken“ dar, die alleine unter den Koalitionstruppen seit 2006 mehr als 360 Tote und Verwundete gefordert hätten, so der Bericht.

Parlamentarische Versammlung fordert weitere Unterstützung für Kabul

Die Lage in Afghanistan stand denn auch – neben den humanitären Aspekten der Kriege in Syrien und Irak sowie den Beziehungen zwischen der NATO und Russland – im Fokus der Herbsttagung der Parlamentarischen Versammlung, die in der Zeit vom 6. bis 9. Oktober in der rumänischen Hauptstadt Bukarest stattfand.

Bei der Behandlung des Themas sagte Paolo Alli, amtierender Präsident des Forums: „Eine der zentralen Erfahrungen, die das Bündnis bei seinem Engagement in Afghanistan gemacht hat, ist, dass der Aufbau tragfähiger Sicherheitsstrukturen und damit die Schaffung von Stabilität unendlich viel Zeit in Anspruch nimmt.“ Die Versammlung verband diese sicherlich nicht überraschende Erkenntnis mit der Empfehlung an die einzelnen NATO-Mitgliedsländer, den einmal eingeschlagenen Kurs der Unterstützung Afghanistans beizubehalten.

Hellmich, Sonderberichterstatter des Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses der Versammlung, appellierte in Bukarest: „Der Weg zum Frieden in Afghanistan ist hart und mühselig. Für viele Afghanen ist dauerhafte Sicherheit ein nur schwer vorstellbares Gut. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Gleichgewicht der Kräfte kippt und weiteres Territorium in die Hände der Taliban oder anderen aufständischer Gruppierungen fällt.“

Druck der Vereinigten Staaten auf die Verbündeten wächst

In dieser Woche will die Bundesregierung alle Militäreinsätze der Bundeswehr, die zum Jahreswechsel auslaufen, um drei Monate verlängern. Das berichtete am heutigen Dienstag (17. Oktober) die Westfälische Rundschau (WR). Es geht um fünf Mandate, die Ende 2017 auslaufen. Und um zwei Mandate, die spätestens Ende Januar 2018 verlängert werden müssen. Mehr als 2600 Soldaten bekämen damit Klarheit und Rechtssicherheit.

Zu den bis zum 31. Dezember dieses Jahres befristeten Bundestagsmandaten für Auslandseinsätze der Bundeswehr gehört auch die „Resolute Support Mission“ in Afghanistan. Mit Stand 9. Oktober dienen derzeit 960 Bundeswehrangehörige bei RSM (Mandatsobergrenze 980). Im deutschen Kontingent sind 69 Frauen und 85 Reservisten. Oberstleutnant André Wüstner, Bundesvorsitzender des Deutschen Bundeswehr-Verbandes, äußerte sich gegenüber der WR zur deutschen Truppenstärke am Hindukusch. Schon bei Mandatserteilung für die Mission „Resolute Support“ Ende 2014 sei aus Sicht der Streitkräfte die Mandatsobergrenze von 980 Mann zu niedrig bemessen gewesen, sagte Wüstner. „Der militärische Ratschlag verhallte seinerzeit ungehört.“

Und diesmal? Der Druck der USA auf die Partner, mehr Personal nach Afghanistan zu entsenden, wächst. Dies berichtete Bundestagsabgeordneter Hellmich der WR. Nachvollziehbar, dass es auch deshalb im Verteidigungsministerium bereits Überlegungen gibt, das Bundeswehrkontingent in Afghanistan wieder zu verstärken. Nach Spiegel-Informationen drängt die militärische Führung – auch aufgrund der gefährlichen Lage im Land (siehe dazu hier und hier) – darauf, die deutschen Einheiten für die NATO-Mission „Resolute Support“ um fast 50 Prozent auf 1400 Soldaten aufzustocken.

Fregattenkapitän Frank Fähnrich, Sprecher im Bundesministerium der Verteidigung, äußerte sich am Mittwoch vergangener Woche (11. Oktober) in der Bundespressekonferenz dazu. Er blieb nebulös: „Wie bereits schon öfter hier erwähnt, sind wir nicht in der ersten Reihe, wenn es darum geht, unsere Truppen in [Afghanistan] zu erhöhen. […] Wir werden die nächsten Wochen und Monate abwarten. Denn nicht nur bei uns, sondern vor allen Dingen in der NATO laufen Gespräche dazu und finden Treffen statt, in dem sich diese entsprechenden Höhen und Tiefen abzeichnen werden.“


Zu unserem Bildangebot:
1. Afghanische Armee- und Polizeikräfte bereiten sich auf einen gemeinsamen Einsatz gegen Taliban und andere Aufständische vor. Die Aufnahme entstand am 13. August 2015 bei der Operation „Iron Triangle“.
(Foto: Susan Harrington/Public Affairs „Resolute Support“)

2. Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften im regionalen Trainingszentrum in der Provinz Helmand. Das Bild vom 8. März 2017 zeigt einen Angehörigen des 215. Korps der afghanischen Armee und einen US-Ausbilder.
(Foto: Kay M. Nissen/NATO)

3. Bundeswehrangehörige am 11. Juni 2017 bei einem Appell im Hauptquartier der „Resolute Support Mission“ in der afghanischen Hauptstadt Kabul.
(Foto: Public Affairs „Resolute Support“)

Kleines Beitragsbild: NATO-Medaille für den Afghanistaneinsatz.
(Foto: Public Affairs „Resolute Support“)


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