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Berlin/Kabul (Afghanistan). „Wir haben viel erreicht, aber wir sind noch lange nicht am Ziel!“ – so lautete in den Jahren 2010 bis 2014 das übergreifende Fazit der sogenannten „Fortschrittsberichte“, mit denen die Bundesregierung die Lage in Afghanistan für Parlament und Öffentlichkeit beschrieb. Viel erreicht? Wie fragwürdig die Bilanz des Westens nach nunmehr fast 16 Kriegsjahren am Hindukusch ist, verrät eine Aussage der Bundeskanzlerin. Am 6. Mai warnte Angela Merkel in einer Videobotschaft vor einem übereilten Abzug der westlichen Nationen aus Afghanistan. Der langfristige Einsatz dort dürfe keinesfalls zu früh beendet werden. Anderenfalls könnten „die Ergebnisse, die wir erzielen können oder schon erzielt haben, einfach wieder in sich zusammenbrechen“. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen geht davon aus, dass die Bundeswehr noch viele Jahre in Afghanistan wird bleiben müssen. Am 10. Juni forderte sie in einem Interview mit den Zeitungen der Funke-Mediengruppe „Geduld und einen langen Atem“ bei diesem Einsatz. Mittlerweile wurde auch bekannt, dass die USA ihr Truppenkontingent in Afghanistan um rund 4000 Soldaten aufstocken wollen. Eine derartige Entscheidung der Leitnation zur eigenen Truppenstärke wird möglicherweise auch Auswirkungen auf die Bundeswehr haben.

Seit Umwandlung des US-geführten Kampfeinsatzes in eine Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission (Resolute Support Mission, RSM) und der damit verbundenen einschneidenden Truppenreduzierung Ende 2014 haben die Aufständischen die Offensive ergriffen. Bombenanschläge, konzentrierte Angriffe, Insiderattacken, bewaffnete Überfälle und Entführungen gehören inzwischen in fast allen Landesteilen zum Repertoire der regierungsfeindlichen Kräfte. Und immer wieder geraten auch deutsche Staatsbürger ins Visier der Regierungsgegner.

So wurden bei einem massiven Angriff auf das deutsche Generalkonsulat im nordafghanischen Mazar-e Sharif am 10. November 2016 (wir berichteten) mindestens sechs Afghanen getötet, fast 130 Menschen im Umfeld des Generalkonsulats wurden verletzt.

Am 20. Mai starben in der Hauptstadt Kabul bei einem Überfall eine deutsche Entwicklungshelferin und ein afghanischer Wachmann. Beide arbeiteten für die schwedische Hilfsorganisation „Operation Mercy“.

Elf Tage später, am 31. Mai, forderte ein verheerender Anschlag in unmittelbarer Nähe der deutschen Botschaft in Kabul mehr als 150 Tote. 450 Menschen wurden verletzt. Die Botschaft wurde dabei schwer beschädigt (sie war Medienberichten zufolge, die sich auf Aussagen aus Sicherheitskreisen stützten, das eigentliche Anschlagsziel).

Endloser Abnutzungskrieg voller schmerzhafter Niederlagen

Anthony H. Cordesman ist einer der führenden Militärexperten des in Washington D.C. ansässigen Zentrums für internationale und strategische Studien (Center for Strategic and International Studies, CSIS). Über den inzwischen fast 16 Jahre dauernden Einsatz der USA und ihrer Verbündeten am Hindukusch urteilte er vor Kurzem in seinem Report „The Afghan War. Creating an Afghan Capability to win“: „Die Trump-Administration hat in Afghanistan ein Chaos geerbt. Zwei ihrer Vorgängerregierungen ist es nicht gelungen, die afghanischen Sicherheitskräfte vernünftig auf den Abzug der westlichen Kampftruppen im Jahr 2014 vorzubereiten. Auch haben die jeweiligen gewählten afghanischen Regierungen bis heute die Erwartungen, die in sie gesetzt worden sind, nicht erfüllen können.“

Ob die Afghanen den Kampf gegen die Aufständischen – allen voran die Taliban – am Ende verlieren werden, sei zwar fraglich, meint Cordesman. Ziemlich sicher sei jedoch, dass in Afghanistan ein Abnutzungskrieg tobe, der sich endlos hinziehen könne. Der Militäranalyst, der unter anderem auch die NATO berät, fürchtet mit Blick auf die jüngsten verheerenden Anschläge in Kabul und im Landesinneren: „Vielleicht markiert dabei das Jahr 2017 den Beginn einer ganzen Reihe schmerzvoller Niederlagen.“

Schon jetzt die Dimensionen des Marshall-Plans von 1947 übertroffen

In Cordesmans Report finden wir auch Zahlen, die die ganze Dimension des bisherigen Engagements der USA in Afghanistan widerspiegeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützten die Vereinigten Staaten mit einem großen Wirtschaftswiederaufbauprogramm – offiziell European Recovery Program oder auch Marshall-Plan genannt – Deutschland und andere europäische Länder. Es flossen Kredite, hinzu kamen Nahrungsmitteln, Waren und Rohstoffen. Alles in allem betrug die damalige vierjährige Hilfe nach heutigem Stand 103 Milliarden US-Dolllar.

Für Afghanistan musste der amerikanische Steuerzahler bis heute mehr als 117 Milliarden US-Dollar aufbringen, 68 Milliarden davon entfielen bislang auf die Afghan National Defence and Security Forces – die Polizei und das Militär des Landes.

Afghanische Regierung kontrolliert nur noch 60 Prozent aller Landesdistrikte

Ein ernüchterndes Bild vom Zustand Afghanistans zeichnet immer wieder der US-Sonderbeauftragte für den Aufbau des Landes, John Sopko. In seinem letzten Quartalsbericht vom April dieses Jahres beklagt der Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) vor allem die hohen Opferzahlen am Hindukusch. Der SIGAR-Bericht zitiert dabei unter anderem die Zahlen der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (United Nation Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA), die ein neues tragisches Rekordhoch erreichten. So kamen im Jahr 2016 insgesamt 11.418 Zivilisten durch den landesweiten Konflikt ums Leben. Mehr als 660.000 Menschen flohen vor Kämpfen und Anschlägen aus ihren Häusern, gut 40 Prozent mehr als noch im Jahr 2015.

Erschreckend entwickelten sich auch die Verluste der afghanischen Sicherheitskräfte: Bereits zwischen dem 1. Januar und dem 24. Februar 2017 starben 807 Soldaten und Polizisten bei Auseinandersetzungen mit den Taliban und anderen Aufständischen, 1328 wurden verwundet (mittlerweile dürfte diese Bilanz noch schlimmer ausfallen).

SIGAR dokumentiert auch Angaben der U.S. Forces Afghanistan (USFOR-A) zur Gesamtsicherheitslage. Demnach kontrollierte Anfang des Jahres die Regierung in Kabul rund 60 Prozent der 407 Landesdistrikte, die Taliban ungefähr elf Prozent davon. Etwa 29 Prozent der Distrikte sind umkämpft.

Weltweit größer Teil des illegalen Opiums wird in Afghanistan hergestellt

Eine Haupteinnahmequelle der Aufständischen zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die Regierung und die Kräfte der Allianz ist der Drogenhandel. Laut SIGAR-Bericht, der sich auf Informationen des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (United Nations Office on Drugs and Crime, UNODC) stützt, wuchs die Opiumernte in Afghanistan im Jahr 2016 um etwa 43 Prozent im Vergleich zum Jahr 2015. Die Fläche zum Anbau von Schlafmohn in Afghanistan nahm 2016 um zehn Prozent zu und beträgt inzwischen mindestens 201.000 Hektar. Hauptlieferant ist nach wie vor die umkämpfte Provinz Helmand. Aber auch im Norden, wo lange die Bundeswehr stationiert war, breitet sich der Anbau ungehemmt aus.

Die Regierung in Kabul habe wegen der Erfolge der Taliban einen deutlichen Rückschlag erlitten in ihren Bemühungen, Schlafmohnfelder zu vernichten, kommentierte UNODC die Entwicklung. 2016 seien in Afghanistan gerade mal 355 Hektar Schlafmohn vernichtet worden – ein Rückgang von 91 Prozent. Opium ist der Rohstoff für Heroin, der wohl gefährlichsten Droge überhaupt. Heroin führt rasch in die körperliche und psychische Abhängigkeit, die körperlichen Entzugssymptome sind heftig, der Spielraum zwischen Verträglichkeit und Überdosis ist äußerst gering.

Mit einem geschätzten Handelswert von 6,8 Milliarden Euro auf Konsumentenebene ist Heroin das am weitesten verbreitete Opioid auf dem europäischen Drogenmarkt. Dies geht aus dem Drogenbericht 2017 der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) hervor, der am 6. Juni vorgestellt wurde. Der weltweit größte Teil des illegalen Opiums werde nach wie vor in Afghanistan hergestellt, erklärt EMCDDA. Es werde vermutet, dass das nach Europa gelangende Heroin überwiegend von dort beziehungsweise aus dem benachbarten Iran oder Pakistan stammt.

Bei den meisten der in Europa gemeldeten tödlichen Überdosierungen werden laut EMCDDA Heroin oder seine Metaboliten nachgewiesen, oftmals in Verbindung mit anderen Substanzen. „Die jüngsten Daten belegen einen Anstieg der Zahl der heroinbedingten Todesfälle in Europa“, warnt die Beobachtungsstelle.

Mehrheit der Bundesbürger will Beendigung des Afghanistaneinsatzes

Afghanistan – das Fass ohne Boden! Eine Mehrheit der Deutschen – 55 Prozent – befürwortet laut einer Umfrage des Erfurter Meinungsforschungsinstituts INSA für die BILD-Zeitung einen vollständigen Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch. Lediglich 20,3 Prozent sprachen sich für einen Verbleib deutscher Soldaten in dieser Region aus. Die Befragung wurde im Zeitraum 9. bis 12. Juni unter 2051 Bürgern durchgeführt.

Derzeit hat die Bundeswehr bei der „Resolute Support Mission“ 974 Soldaten im Einsatz, davon 75 Frauen und 81 Reservisten (Stand: 19. Juni). Das aktuelle Mandat des Bundestages für diesen Auslandseinsatz stammt vom 15. Dezember 2016 und ist bis zum 31. Dezember dieses Jahres befristet. Verlängerung wahrscheinlich.

Ständige Frage nach einem Truppenabzug spielt Terroristen in die Hände

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen bezog am 10. Juni in ihrem Interview für die Zeitungen der Funke-Mediengruppe in Sachen „Afghanistan-Verbleib“ klar Position. Angesprochen auf die schlechte Sicherheitslage im Einsatzland versprach sie: „Die Präsenz deutscher und verbündeter Kräfte in Afghanistan wird noch eine Weile bleiben, und die Bedeutung von Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte ist nicht geringer geworden. Wir werden nicht zulassen, dass die Terroristen die Oberhand gewinnen.“ Von der Leyen räumte ein, dass es schwer sei, Afghanistan zu stabilisieren. Aber sie sei davon überzeugt, dass „dieses leidgeplagte Land“ es schaffen könne.

Zur möglichen Dauer einer Einsatzverlängerung deutete sie an: „Wir brauchen Geduld und einen langen Atem. Selbst im Kosovo ist die Bundeswehr seit fast 20 Jahren stationiert. In Afghanistan müssen wir wahrscheinlich in noch längeren Zeiträumen denken.“ Dabei nannte die Ministerin auch einen besonderen Aspekt: „Wir sollten nicht ständig fragen, wann wir abziehen können, weil das die Terroristen motiviert und die Menschen verunsichert, die ja gerne in der Heimat bleiben wollen.“

USA wollen ihr Kontingent am Hindukusch um 4000 bis 5000 Soldaten aufstocken

US-Verteidigungsminister James Mattis hat von Präsident Donald Trump freie Hand bekommen, die Zahl der amerikanischen Soldaten in Afghanistan nun selbst festzulegen. Dies teilte er am 14. Juni im Rahmen einer Unterausschussanhörung des Senats mit. Der Kampf gegen den Terror in Afghanistan genieße auch weiterhin Priorität, erklärte Mattis. Solange man dem Feind in Afghanistan „auf den Füßen stehe“, sei dieser in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.

Auf die Frage, warum es inzwischen in Afghanistan zu einem Wiedererstarken der Aufstandsbewegung gekommen sei, meinte der Verteidigungsminister, das internationale Militärengagement sei dort zu früh zurückgefahren worden. Momentan befinden sich noch rund 13.000 Kräfte der US-geführten Koalition in Afghanistan, unter ihnen etwa 8400 Amerikaner.

Wie die Nachrichtenagentur AP in Washington erfahren haben will, plant die US-Regierung nun eine Aufstockung ihres Kontingents in Afghanistan um 4000 bis 5000 Soldaten. Damit soll die nach Ansicht von Experten zu kleine „Resolute Support Mission“ personell gestärkt werden. Teile sollen auch im Kampf gegen die Regierungsgegner eingesetzt werden, da die afghanische Armee zum jetzigen Zeitpunkt noch überfordert ist. Es wird damit gerechnet, dass die USA eine Bitte um Truppenerhöhung auch an andere NATO-Länder herantragen werden.


Zu unserem Bildlauf:
1. In der Provinz Helmand: US-Soldaten erkundigen sich bei einem afghanischen Polizeioffizier nach der Sicherheitslage vor Ort. Die Aufnahme entstand im April 2014 während einer zweitägigen Operation der US-Kräfte gegen Talibankämpfer.
(Foto: Joseph Scanlan/U.S. Marine Corps)

2. US-Verteidigungsminister James T. Mattis bei seiner Anhörung im Senatsunterausschuss am 14. Juni 2017. Dort wies er darauf hin, dass der amerikanische Militäreinsatz in Afghanistan als Teil eines größeren Engagements der USA in diesem Teil der Welt gesehen werden müsse.
(Foto: Dominique A. Pineiro/United States Department of Defense)

3. Die afghanischen Sicherheitskräfte mussten in den vergangenen Monaten schwere Verluste im Kampf gegen die Aufständischen hinnehmen – das Foto wurde im November 2012 bei der Ausbildung afghanischer Rekruten in Helmand gemacht.
(Foto: Bill Putnam/U.S. Army)

4. Terroristen und bewaffnete Gruppen profitieren vom Drogenhandel. Im aktuellen Weltdrogenreport der Vereinten Nationen findet sich der Hinweis, dass bis zu 85 Prozent des Mohnanbaus für die Opiumproduktion in Afghanistan in den Gebieten stattfinden, die unter Taliban-Einfluss stehen. Produktion und Handel mit Drogen lieferten den Aufständischen etwa die Hälfte ihres Jahreseinkommens, so der Bericht. Der Bildhintergrund unserer Infografik zeigt einen Soldaten der Afghanischen Nationalarmee inmitten eines Mohnfeldes. Das Bild entstand im Mai 2013 in der Provinz Nangarhar.
(Foto: Kaily Brown/U.S. Army; Infografik © mediakompakt 06.17)

Unser Großbild auf der START-Seite zeigt das Ärmelemblem der „Resolute Support Mission“.
(Foto: Joseph Scanlan/U.S. Marine Corps)

Kleines Beitragsbild: Soldaten der Koalition werden von einem US-Hubschrauber zu einem Spezialeinsatz geflogen; sie sollen einen Taliban-Führer festsetzen. Die Aufnahme wurde im Januar 2014 in der Helmand-Provinz gemacht.
(Foto: Michael G. Herrero/U.S. Army)


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