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Berlin/Koblenz. Vor gut 26 Jahren veränderte sich mit der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und der deutschen Wiedervereinigung die sicherheitspolitische Lage unseres Landes fundamental. Die Bundeswehr trat damals – zunächst kaum wahrgenommen – ein in einen später tiefgreifenden Aufgaben- und Funktionswandel. Nach und nach veränderte sie sich von einer reinen Armee der Landes- und Bündnisverteidigung in eine Armee für den und im Einsatz. Seit 1990 haben deutsche Soldaten an mehr als 50 Auslandseinsätzen teilgenommen. Dabei handelte es sich zu Beginn um Missionen unterhalb der Schwelle „richtiger“ militärischer Einsätze, um humanitäre, sanitätsdienstliche, logistische oder technische Missionen. Später jedoch kamen bewaffnete Auslandseinsätze hinzu – auf dem Balkan, in der Demokratischen Republik Kongo, in Afghanistan. Bislang starben 106 Bundeswehrangehörige bei Auslandsverwendungen. Diese Zahl nennt eine Aufstellung des Verteidigungsministeriums vom 2. Februar dieses Jahres. Darin geht es vor allem um die „Gesamtkosten der Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Der Bericht war angefordert worden von der Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des Bundestages, Gesine Lötzsch (Die Linke). Die 14 Seiten haben ihre Fraktion möglicherweise nachhaltig verstimmt …

Man könnte die Anfragen der Opposition nach den Kosten der Bundeswehr-Auslandseinsätze fast schon als kleines Ritual abtun, wären sie nicht immer wieder aufs Neue gerechtfertigt und wichtig. Über die Frage, wie teuer denn das Engagement der Bundeswehr bei Auslandsmissionen überhaupt ist, hatten auch wir bereits mehrfach berichtet (siehe hier, hier und hier).

Diesmal erfuhren Parlamentarier und Öffentlichkeit, dass im Zeitraum Februar 1992 bis heute 55 Auslandseinsätze stattgefunden haben und dafür mindestens 17,2 Milliarden Euro – exakt 17.184,8 Millionen Euro – ausgegeben worden sind (Stand: 19. Januar 2016).

Störende Lücken in den Angaben des Verteidigungsministeriums

Spitzenreiter der besonders teuren Missionen war mit fast neun Milliarden Euro – genaue Zahlen zeigt Ihnen unsere Infografik – die deutsche Beteiligung an der ISAF in Afghanistan (ISAF: International Assistance Force). Es folgen die Balkaneinsätze KFOR (Kosovo Force) mit rund 3,4 Milliarden Euro und SFOR (Stabilization Force in Bosnien-Herzegowina und Kroatien) mit fast 1,2 Milliarden. Auf dem vierten Rang der kostenintensivsten Bundeswehr-Auslandseinsätze finden wir mit knapp 1 Milliarde Euro die OEF (Operation Enduring Freedom am Horn von Afrika und in Kuwait), beendet im Juni 2010.

Irritierend an der Aufstellung des Ministeriums ist die Tatsache, dass für acht Auslandseinsätze keine Kostenangaben gemacht werden. Dort steht statt einer Größenordnung lediglich der lapidare Hinweis „nicht mehr ermittelbar“. Wirtschaftsredakteur David Böcking merkte dazu in einem Onlinebeitrag am 19. Februar für das Nachrichtenmagazin Spiegel an: „Zu zwei Einsätzen in Ex-Jugoslawien ließ sich zudem nicht einmal die Zahl der eingesetzten Soldaten rekonstruieren. Die Lücken betreffen auch umfangreichere Einsätze – etwa die Mission ,Allied Harbour‘, an der sich 1999 im Kosovo und Mazedonien bis zu 1000 Soldaten beteiligten – sowie solche in der jüngeren Vergangenheit, zum Beispiel eine OSZE-Mission in Georgien zwischen 2008 und 2009.“

Seit mehr als drei Jahren annähernd die gleichen Größenordnungen

So ist es nicht verwunderlich, wenn die genauen Kosten der Auslandseinsätze der Bundeswehr im Zeitraum 02/1992 bis 01/2016 unscharf bleiben und die jetzt genannte Gesamtgrößenordnung von etwa 17,2 Milliarden Euro „mit Vorsicht zu genießen“ ist. Bereits unsere Recherchen in den Jahren 2013 und 2014 haben ergeben, dass die damals von der Regierung gemachten Angaben über die gesamten einsatzbedingten Zusatzausgaben ähnlich ausfielen.

So berichteten wir beispielsweise am 14. Juli 2013, dass deutsche Auslandseinsätze für den Zeitraum Februar 1992 bis Juli 2013 knapp 17 Milliarden Euro gekostet hätten. Unser Beitrag vom 2. Dezember 2014 nennt für den Zeitraum Februar 1992 bis Ende 2013 eine Größenordnung von „etwa 18 Milliarden Euro“.

„Entsprechendes Datenmaterial bis hin zur Bundeswehr-Gründung liegt nicht vor“

Und was ist mit den frühen Einsätzen der Bundeswehr außerhalb des westdeutschen Hoheitsgebiets? Den humanitären Einsätzen? Denken wir nur an die Hilfeleistungen von Luftwaffe, Sanitätsdienst und ABC-Abwehrtruppe im Februar 1960 in der marokkanischen Hafenstadt Agadir, die damals von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht worden war. Oder an die Katastrophenhilfe der Bundeswehr im August 1976 im norditalienischen Erdbebengebiet Friaul. Oder an die Transall-Hilfsflüge im November 1984 in die Hungergebiete in Äthiopien. Die Liste dieser Einsätze ist noch länger. Verständlich, wenn die Politik auch hier einmal um eine detaillierte Aufstellung bittet.

Die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötsch fragte denn auch die Regierung an: „An jeweils welchen Auslandseinsätzen – alle Einsätze der Bundeswehr außerhalb Deutschlands – beteiligte sich die Bundeswehr seit ihrer Gründung?“ Lötzsch erhoffte sich eine „chronologische Auflistung der Einsätze unter Angabe des Einsatzzeitraumes, des Einsatzgebietes sowie gegebenenfalls des Operationsnamens“. Die Antwort versetzt nicht nur sie in Erstaunen. Das Verteidigungsministerium erklärt: „Entsprechendes Datenmaterial bis hin zur Gründung der Bundeswehr liegt nicht vor.“

Erforschung der deutschen Militärmissionen durch das Bundesarchiv

Eine chronologische Auflistung der Einsätze hätte nicht nur das „Ich sag Dir alles“-Portal Wikipedia liefern können. Auch das Bundesarchiv in Koblenz hätte dem Ministerium sicherlich bei der Beantwortung der Abgeordnetenfrage helfen können.

Blicken wir einmal in die Mitteilungen 1/2013 (21. Jahrgang) des Bundesarchivs. Dort beschreibt Michael Steidel auf sechs Seiten unter der Überschrift „Der Wandel der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz und damit verbundene Veränderungen in der Überlieferungsbildung“ die enge Zusammenarbeit der Bundesbehörde mit militärischen Dienststellen. Bereits Ende der 1960er-Jahre habe die damalige Bundesregierung entschieden, das Archivgut militärischer Provenienz dem Bundesarchiv zuzuweisen und nicht im Verteidigungsressort zu belassen. Dies sei „sehr nutzerfreundlich“. Darin spiegele sich auch „die Intention einer starken Einbettung der Bundeswehr in das gesamtpolitische Gefüge und deren Integration in Staat und Gesellschaft“, so Steidel.

Weiter schreibt der Leiter der Abteilung „Militärarchiv“ des Bundesarchivs: „Die staatliche Anwendung von militärischer Gewalt [bedarf] nicht nur einer moralischen und legalen Begründung, sondern grundsätzlich auch einer seriösen Einschätzung ihrer Wirksamkeit hinsichtlich der mit ihr verfolgten politischen Ziele. Schließlich sind die Auslandseinsätze eine kostspielige und nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten, sondern für die gesamte Gesellschaft eine potenziell riskante Angelegenheit.“

Vor diesem Hintergrund habe auch das Verteidigungsministerium für seinen mit militärgeschichtlichen Fragen betrauten unterstellten Bereich eine zentrale Forschungsanweisung neu definiert. Ihr zufolge seien nun Auslandseinsätze ganz besonders zu untersuchen. Zeitnahe Erforschung der Auslandseinsätze bedeute, so bringt es Archivdirektor Steidel auf den Punkt: „Geschichte zu schreiben, während sie noch qualmt.“

Acht Auslandseinsätze der Bundeswehr mit dicken Fragezeichen

Dass das Verteidigungsministerium auch die Frage der Vorsitzenden des Haushaltsausschusses nach der „Gesamtzahl aller im Ausland eingesetzter Soldatinnen und Soldaten seit der Gründung der Bundeswehr“ nicht ermitteln kann (oder will), macht angesichts einer guten militärhistorischen Archivlage doch recht stutzig.

Unbefriedigend (weil „keine Angaben zu dem insgesamt eingesetzten Personal“ und/oder „zu den Gesamtkosten“) fielen die Regierungsantworten zu folgenden Einsätzen aus:
Rapid Reaction Force (Schneller Einsatzverband der NATO), ehemaliges Jugoslawien, Zeitraum Juni 1995 bis Dezember 1995;
UNTAES (United Nations Transitional Administration for Eastern Slavonia, Baranja and Western Sirmium), Kroatien und Serbien, Zeitraum Februar 1996 bis Juli 1997;
„Libelle“, Albanien, Zeitraum März 1997;
„Allied Harbour“, Kosovo und Mazedonien, Zeitraum April 1999 bis September 1999;
„Avenir“, Kongo, Zeitraum April 2004 bis Juni 2004;
AMM (Aceh Monitoring Mission), Indonesien, Zeitraum September 2005 bis März 2006;
Einsatz in Pakistan, Zeitraum Oktober 2005 bis März 2006;
Mission der OSZE in Georgien, Zeitraum August 2008 bis Juni 2009.

Opposition erinnert Bundesregierung an ihre Auskunftspflichten

Wissen wollten Lötzsch und die Linken auch „wie viel Personal der Bundeswehr – Soldaten und zivile Beschäftigte – in jeweils welchem Auslandseinsatz verwundet beziehungsweise getötet“ wurde oder „aus anderen Gründen“ verstarb. Die Aufgabenstellung wurde dadurch erschwert, weil Lötzsch darum gebeten hatte, zusätzlich „auch die Gesamtzahl des im Ausland verwundeten und getöteten beziehungsweise verstorbenen Personals seit der Gründung der Bundeswehr“ auszuweisen.

Das Verteidigungsministerium teilte zwar mit, dass bislang 106 Bundeswehrangehörige im Rahmen von Auslandseinsätzen zu Tode gekommen sind (Stand: 19. Januar 2016). Eine Übersicht über die Gesamtzahl des im Ausland verwundeten, getöteten oder aus anderen Gründen verstorbenen Personals seit Gründung der Bundeswehr liege allerdings nicht vor, so die offizielle Antwort. Auch dies verwundert!

Die Bundestagsfraktion der Linken ließ die Sache nicht auf sich beruhen, sondern wandte sich am 19. Februar mit einer entsprechenden Kleinen Anfrage erneut an die Regierung. Man sei überrascht, dass die Bundesregierung „entweder nicht in der Lage oder nicht Willens“ sei, Abgeordneten haushaltsrelevante Informationen zur Verfügung zu stellen. Die Oppositionspolitiker erinnern mit Nachdruck daran: „Artikel 110 Grundgesetz gewährleistet das parlamentarische Budgetrecht und weist dem Bundeshaushalt und damit insbesondere dem Haushaltsgesetzgeber eine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung zu. Das Budgetrecht und mit ihm die Kontrolle des Haushaltsvollzuges ist eines der wesentlichen Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle. Dies muss vor dem Hintergrund des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts, der die Bundeswehr zu einer Parlamentsarmee macht, insbesondere für die auch nachgelagerte Kontrolle von Wehrausgaben gelten. Diese Kontrolle kann nur effektiv ausgeübt werden, wenn und soweit die Bundesregierung dem Parlament die erforderlichen Informationen zur Verfügung stellt.“

Linke fragt weiter nach Heilbehandlungskosten und Hinterbliebenenleistungen

Konkret stört sich die Linke – außer an fehlendem Datenmaterial – auch daran, dass „die Bundesregierung nicht in der Lage [war] anzugeben, welche Heilbehandlungskosten insgesamt seit Gründung der Bundeswehr für physische und psychische Therapien von in Auslandseinsätzen geschädigten Soldatinnen und Soldaten aufgewendet wurden“.

Gleiches gelte für die Gesamtkosten, die seit der Gründung der deutschen Streitkräfte für die Versorgung und Entschädigung der Hinterbliebenen der Bundeswehrangehörigen, die insgesamt bei den Auslandseinsätzen zu Tode kamen, entstanden sind. Auch zu diesen Leistungen hatte die Bundesregierung keine detaillierten Angaben machen können.

„Bundeswehr sollte sich wieder auf die Landesverteidigung konzentrieren“

Die unzureichende Regierungsauskunft ist gleichsam Wasser auf die Mühlen der Linken. Ausschussvorsitzende Lötzsch äußerte sich gegenüber dem bundeswehr-journal: „Ich bin schon verwundert, dass die Verteidigungsministerin mehr Verantwortung in der Welt übernehmen will – sprich mehr Auslandseinsätze plant – ihr aber die Planungsgrundlage fehlt: die Analyse der bisherigen Auslandseinsätze. Ohne solide Zahlen ist das nicht möglich. Ich komme zu dem Schluss, dass Aufwand und Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis stehen. Die Bundeswehr sollte sich wieder auf die Landesverteidigung konzentrieren.“

Derzeit sind nach Angaben des Bundesministeriums der Verteidigung 3005 Soldaten der Bundeswehr unmittelbar bei Auslandsmissionen eingesetzt (Stand: 22. Februar 2016).


Zum Bildangebot für den Beitrag „Rund 17,2 Milliarden Euro für 55 Auslandseinsätze“:
1. Unsere Infografik zeigt die Größenordnungen der bislang vier teuersten Auslandsmissionen der Bundeswehr. Das Hintergrundbild entstand am 14. April 2013 in Bamako, Mali. Der Airbus der Flugbereitschaft des Bundesministeriums der Verteidigung brachte an diesem Tag rund 20 Pionier-Ausbilder ins Land, die zum 1. Mali-Einsatzkontingent abkommandiert worden waren. Ihre Aufgabe dort: Beratung und Ausbildung einheimischer Soldaten im Rahmen der multinationalen Ausbildungsmission der Europäischen Union EUTM Mali (European Union Training Mission Mali).
(Foto: Sebastian Wilke/Bundeswehr)

2. Die Teilstreitkräfte der Bundeswehr im Auslandseinsatz – Angehöriger des deutschen Heeres am 2. September 2010 im Norden Afghanistans im Feuergefecht mit Aufständischen.
(Foto: Patrick von Söhnen/Bundeswehr)

3. Syrieneinsatz der Luftwaffe – Tornados vom Taktischen Luftwaffengeschwader 51 „Immelmann“ am 5. Januar 2016 auf der Air Base Incirlik, Türkei.
(Foto: Falk Bärwald/Bundeswehr)

4. Deutsche Marine bei der europäischen Mission EU NAVFOR Somalia – Operation „Atalanta“: Fregatte „Sachsen“ am 9. August 2012 bei der Ankunft im Hafen von Dschibuti.
(Foto: Gunnar Wolff/Bundeswehr)

Unser Großbild auf der START-Seite zeigt einen deutschen Tornadopiloten am 4. Februar 2016 auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik. Er trägt die Nachtsichtbrille und ist bereit für seinen Aufklärungseinsatz über Syrien. Erkundungsziel sind die Stellungen der Terrormilizen des sogenannten „Islamischen Staates“.
(Foto: Falk Bärwald/Bundeswehr)


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