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Ankara/Brüssel/Berlin. Die Türkei ist Ende vergangener Woche nach einem Selbstmordanschlag in der anatolischen Kleinstadt Suruç aktiv in den Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) eingestiegen. Gleichzeitig gehen türkische Sicherheitskräfte auch massiv gegen kurdische Aktivisten vor. Während der Kampf der Türkei gegen den IS von der internationalen Allianz gegen die dschihadistische Terrorbewegung ausdrücklich begrüßt wird, kritisieren vor allem die Europäer das Vorgehen gegen die Kurden als Gefahr für den Friedensprozess mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Bei einer von der Türkei nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrages beantragten NATO-Sondersitzung am Dienstag dieser Woche (28. Juli) erläuterte die türkische Regierung ihr Vorgehen gegen den IS. Die Angriffe auf PKK-Einheiten sollen Presseberichten zufolge dabei in Brüssel offiziell keine Rolle gespielt haben. Mittlerweile äußerten sich auch deutsche Politiker über einen möglichen Abbruch des Bundeswehr-Auslandseinsatzes „Active Fence Turkey“. Bei dem noch bis zum 31. Januar 2016 gültigen Mandat schützen deutsche Patriot-Systeme nahe der syrischen Grenze türkisches Territorium vor Angriffen aus der Luft. Wir behandeln das komplexe Themenfeld in einem zweiteiligen Beitrag …

Der Artikel 4 des Nordatlantikvertrages sieht Konsultationen dann vor, wenn ein Bündnispartner seine territoriale Integrität oder seine Sicherheit bedroht sieht. Sondertreffen dieser Art dienen dem Austausch zur Lage und zur Beratung innerhalb der Allianz.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat bei der Sitzung auf Botschafterebene der Türkei die Unterstützung der Gemeinschaft im Kampf gegen den Terrorismus zugesagt. Bereits zu Beginn des Treffens hatte er klargemacht, dass „Terrorismus in all seinen Facetten“ nie geduldet oder gerechtfertigt werden könne. Es sei richtig, die Tagung zum jetzigen Zeitpunkt abzuhalten, um über die Instabilität „vor der Haustüre der Türkei und an der südöstlichen NATO-Grenze“ zu beraten. Die NATO verfolge die Entwicklungen im Irak und in Syrien sehr genau, versicherte Stoltenberg. „Wir stehen unserem Verbündeten Türkei in starker Solidarität bei.“

Nicht um zusätzliche NATO-Präsenz in der Türkei gebeten

Die Offensive der Türkei gegen die PKK war bei der Sondersitzung am Dienstag offiziell kein Thema. Diplomaten zufolge sollen die Vertreter einiger Länder „ein verhältnismäßiges Vorgehen“ von der Regierung in Ankara gefordert und dabei auf die Notwendigkeit verwiesen haben, den Friedensprozess mit der PKK unbedingt am Leben zu erhalten.

Die Türkei hat von ihren NATO-Partnern vorerst keine weitreichende Unterstützung im Kampf gegen den IS verlangt. Dazu Stoltenberg: „Die Türkei hat nicht um zusätzliche militärische NATO-Präsenz in ihrem Land gebeten.“ Er verwies darauf, dass die „zweitgrößte Armee der Allianz“ durchaus über „sehr fähige Streitkräfte“ verfüge.

Mehr als 30 Tote bei IS-Selbstmordanschlag in Suruç

Die Türkei hatte um das NATO-Sondertreffen nach Artikel 4 vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Südostanatolien ersucht. Blicken wir dazu gut eine Woche zurück …

Bei einem verheerenden Selbstmordanschlag am 20. Juli in der türkischen Stadt Suruç starben 32 Menschen, mehr als 100 wurden zum Teil schwer verletzt. Die Opfer – überwiegend Studenten aus Istanbul, Ankara, Diyarbakır und anderen Städten der Türkei – waren einem Aufruf der sozialistischen Jugendorganisation SGDF (Sosyalist Gençlik Dernekleri Federasyonu/Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei) gefolgt und hatten sich im Amara-Kulturzentrum in Suruç versammelt. Gemeinsam wollten die jungen Männer und Frauen später in das auf der anderen Seite der türkisch-syrischen Grenze liegende Kobane reisen, um dort beim Wiederaufbau der durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ zerstörten Stadt zu helfen.

Nach letzten Erkenntnissen der türkischen Ermittlungsbehörden sprengte sich an diesem Montag gegen 12 Uhr Ortszeit im Garten des Kulturzentrums ein etwa 20 Jahre alter Attentäter in die Luft. Regierungsangaben aus Ankara zufolge ist die Tat „mit größter Wahrscheinlichkeit“ dem IS zuzuschreiben. Nach dem Attentat kam es landesweit in der Türkei zu Protesten gegen die Regierung, die nach Meinung der Demonstranten gegenüber dem IS bislang eher untätig geblieben war.

Am 23. Juli wurde bei einem Schusswechsel über die türkisch-syrische Grenze hinweg ein türkischer Soldat getötet.

Einen Tag zuvor, am 22. Juli, waren in der Stadt Ceylanpınar bei einem Anschlag zwei Polizisten getötet worden. Zu der Tat bekannte sich später die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK (Partiya Karkerên Kurdistan). Die Tat sei eine Vergeltung für den Anschlag im nahe gelegenen Suruç vom Montag, hieß es in einer Erklärung des militärischen Arms der PKK. Die Organisation unterstellte in ihrer Mitteilung den getöteten Polizisten eine Zusammenarbeit mit der Terrormiliz IS. Einer der Polizisten soll Medienberichten zufolge Mitglied einer Anti-Terror-Einheit gewesen sein, der andere Beamte Mitglied einer Einheit „für besondere Aufgaben“.

Staatspräsident Erdogan: „Gegen alle Terrororganisationen“

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan verurteilte alle Taten scharf. Der Terrorismus kenne weder eine Religion noch eine ethnische Zugehörigkeit, so Erdogan. In einem offiziellen Statement erklärte er, die Türkei sei gegen „alle Terrororganisationen“. Bezogen auf den IS und dessen Anschlag in Suruç werde die türkische Regierung „jedes verfügbare Mittel einsetzen, um die Verantwortlichen dieses Terrorangriffs ausfindig zu machen“.

Mehrere türkische Oppositionspolitiker sehen den Anschlag von Suruç nun als ein blutiges Resultat der türkischen Syrien-Politik. So äußerte Ali Haydar Hakverdi, Abgeordneter der größten Oppositionspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi/Republikanische Volkspartei), gegenüber der Tageszeitung Die Welt: „Der Anschlag von Suruç ist eine Folge der türkischen Politik. […] Die Hunde, die wir gefüttert haben, beißen jetzt uns.“ Verantwortlich für die mehr als 30 Toten sei die AKP-Regierung Erdogans, die die „Plage“ namens IS ins Land geholt, dies aber stets geleugnet habe (AKP: Adalet ve Kalkinma Partisi/Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung).

Die prokurdische HDP (Halklarin Demokratik Partisi/Demokratische Partei der Völker), die bei der Parlamentswahl am 7. Juni mit 13 Prozent überraschend stark abgeschnitten hatte, erklärte gegenüber der Presse schriftlich: „Jene, die schweigen und sich nicht trauen, ihre Stimme gegen den IS erheben, die Regierenden in Ankara, die jeden Tag die HDP bedrohen und den IS schützen, sind Komplizen dieser Barbarei.“

Ankaras Politik gegen die Dschihadisten „nicht grundlegend geändert“

In seinem Beitrag „Die Türkei führt Krieg gegen die Feinde des IS“ für Spiegel online skizzierte Christoph Sydow am 27. Juli die nur schwer nachvollziehbare derzeitige Politik der Türkei. Auch wenn der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nach den ersten Luftangriffen Ankaras auf IS-Stellungen vollmundig verkündet habe, die Militäroperationen seines Landes hätten „die Spielregeln in der Region verändert“, so spreche doch die Realität eine völlig andere Sprache. Islamwissenschaftler Sydow: „Trotz der zur Schau gestellten Entschlossenheit Davutoglus: Zu einem wirklich entschiedenen militärischen Durchgreifen gegen den IS in Syrien hat sich die Türkei bislang nicht durchringen können. Die Luftangriffe konzentrierten sich bislang auf wenige Ziele im unmittelbaren Grenzgebiet.“ Eine Woche nach dem schrecklichen IS-Anschlag mit 32 Toten in Suruç habe sich Ankaras Politik gegenüber den Dschihadisten nicht grundlegend geändert, schreibt Sydow. „Noch immer geht die Armee am härtesten gegen jene Milizen im Irak und in Syrien vor, die sich im Kampf gegen den IS am schlagkräftigsten erwiesen haben.“

Ministerpräsident Davutoglu hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Sonntag (26. Juli) übrigens „über das Vorgehen der türkischen Regierung im Kampf gegen den Terrorismus“ informiert. Merkel hatte der Türkei deutsche Solidarität und Unterstützung zugesichert, zugleich aber auch auf das Gebot der Verhältnismäßigkeit bei Militäreinsätzen hingewiesen und appellierte, den Friedensprozess mit den Kurden weiter zu verfolgen.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte am Montag (27. Juli) ebenfalls Verständnis dafür geäußert, dass die Türkei gegen diejenigen vorgehe, die für die schrecklichen Terroranschläge der letzten Tage verantwortlich seien. In einem Telefonat mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte aber auch er gleichzeitig hervorgehoben, dass der so mühsam aufgebaute Friedensprozess mit den Kurden jetzt nicht zum Erliegen kommen dürfe: „Dies würde eine ohnehin komplizierte Lage nur noch schwieriger machen!“

Allianz aus mehr als 60 Staaten gegen die Terrorbewegung „Islamischer Staat“

Mit der „ohnehin komplizierten Lage“ meinte Steinmeier sicherlich auch das Vorgehen einer internationalen Allianz von mehr als 60 Staaten gegen den IS „im Rahmen einer gemeinsamen, vernetzten Strategie“ (so die Bundesregierung). Der Bundestag hat das Mandat für eine Beteiligung der Bundeswehr an diesem Einsatz – der „Ausbildungsunterstützung Irak“ – erstmals am 29. Januar dieses Jahres erteilt. Das Mandat ist bis zum 31. Januar 2016 befristet.

Einsatzschwerpunkt ist laut Bundestagsbeschluss der „nachhaltige Fähigkeitsaufbau der irakischen Streitkräfte sowie der Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak“. Hierfür können bis zu 100 Bundeswehrangehörige entsandt werden. Die multinationale Ausbildungsunterstützung begann im Februar 2015. Die Bundeswehr beteiligt sich an der Mission im nordirakischen Erbil. Momentan sind etwa 80 deutsche Kräfte im Rahmen der Ausbildungsmission im Irak.

Neben der militärischen Ausbildung und Beratung der Peschmerga koordinieren die deutschen Soldaten auch die Lieferungen humanitärer Hilfsgüter und militärischer Ausrüstung in den Nordirak. Deutschland stellte bislang über 100 Millionen Euro für humanitäre Hilfe und strukturelle Übergangshilfe zur Verfügung. Außerdem hat die Bundesregierung bisher militärische Ausrüstung sowie Waffen und Munition für die Sicherheitskräfte im Wert von mehr 46 Millionen Euro bereitgestellt. Am 9. Juli fand der vorerst letzte Transportflug im Rahmen der dritten deutschen Materiallieferung statt.

Kampf gegen den IS nur ein Vorwand für neuen Feldzug gegen die PKK

Lassen Sie uns zum Schluss des ersten Teils unseres Beitrages einen Blick in die tagesaktuelle deutsche Presse vom gestrigen Mittwoch (29. Juli) werfen. Nahezu alle Kommentatoren formulieren drastisch ihr Unverständnis über den türkischen Kurs im Terrorkampf.

So schreibt beispielsweise die Sächsische Zeitung aus Dresden: „Staatschef Erdogan missbraucht den Kampf gegen die IS-Dschihadisten als Vorwand, um einen neuen Feldzug gegen die PKK zu führen. Erdogans Kalkül: Wenn er die IS-Milizen stoppt und damit schwächt, dann stärkt das zwangsläufig die Kurden. Und weil er genau das fürchtet, hat er ebenso leichtfertig wie kurzsichtig den Friedensprozess mit der PKK beendet.“

Die Badischen Neuesten Nachrichten aus Karlsruhe kritisieren die Luftangriffe der Türkei auf die PKK: „Das ist inhaltlich durch nichts zu begründen: Mit den Kurden gab es seit 2013 eine Waffenruhe und einen Friedensprozess; mit dem IS, der die Region ins Mittelalter zurückbomben will, scheint Frieden unmöglich.“

Stehen Kurden der „Machtgier des Sultans aus Ankara“ nur im Weg?

Der Münchner Merkur bezweifelt, dass der türkische Staatspräsident Erdogan in der Vergangenheit wirklich an einem Frieden mit den Kurden interessiert war. Denn diese „sind erfolgreich im Kampf gegen den IS, sie punkten innenpolitisch in der Türkei, und sie wollen endlich einen eigenen Staat. Sie stehen damit den Ambitionen, dem Ehrgeiz und der Machtgier des Sultans aus Ankara im Weg.“

Das Mindener Tageblatt blickt nach Brüssel und warnt: „Die NATO steht dabei, findet den Anti-Terror-Kampf [der Türkei] richtig und schweigt zu den Kurden. Wenn sie sich da mal nicht ganz schwer verrechnet.“

Vor einer Eskalation an der türkisch-syrischen Grenze warnt die Würzburger Main-Post: „Die Hauptlast im Kampf gegen den sogenannten ,Islamischen Staat‘ tragen kurdische Bodentruppen. Scheren die jetzt aus der Koalition gegen die Dschihadisten aus, muss die NATO wohl eigene Infanterie in den Kampf schicken. Die Folgen will man sich gar nicht ausmalen: Ob es dann für die Bundeswehr bei der symbolischen Stationierung einer Raketenabwehrbatterie im ungefährlichen Hinterland bleibt, darf man bezweifeln.“ Mehr zu den deutschen Patriots in Anatolien hier


Zu unserem Bildangebot:
1. Sondertreffen der NATO auf Botschafterebene am 28. Juli 2015 in Brüssel. Beantragt hatte diese Sitzung die Türkei nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrages. NATO-Konsultationen dieser Art werden einberufen, wenn ein Bündnispartner seine territoriale Integrität oder seine Sicherheit bedroht sieht. Sie dienen dem Austausch zur Lage und zur Beratung innerhalb der Allianz.
(Foto: NATO)

2. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg informierte am 28. Juli die Presse darüber, dass die Türkei ihr Vorgehen im Kampf gegen den Terrorismus erläutert habe. Um zusätzliche militärische Unterstützung habe die türkische Regierung allerdings nicht gebeten.
(Foto: NATO)

3. Am 20. Juli 2015 versammelten sich im Amara-Kulturzentrum von Suruç türkische Studentinnen und Studenten, die in der benachbarten syrischen Stadt Kobane beim Wiederaufbau helfen wollten. Gegen 12 Uhr Ortszeit sprengte sich ein Attentäter – türkischen Regierungsangaben zufolge „mit größter Wahrscheinlichkeit“ ein IS-Angehöriger – im Garten des Zentrums in die Luft. 32 Menschen starben, mehr als 100 wurden verletzt. Die Aufnahme zeigt die Gäste des Kulturzentrums unmittelbar vor dem Selbstmordanschlag.
(Foto: über Twitter)

4. Forensische Experten nach dem Anschlag am Tatort in Suruç.
(Foto: Xecican Farqin/Voice of America)

5. Die Beisetzung der Anschlagsopfer wurde begleitet von Protesten gegen die türkische Regierung, die nach Meinung der Demonstranten zu lange tatenlos der Ausbreitung des IS zugesehen hat.
(Foto: Voice of America)


Kommentare

  1. Lars | 30. Juli 2015 um 18:30 Uhr

    Es ist unfassbar was hier geschieht. Erst wird ein Attentat auf Kurden und pro-kurdische Aktivisten verübt, dann werden die Kurden auch noch bombardiert. Die Kurden haben sich als einzige entschlossen gegen die wahnsinnigen ISIS-Terroristen gestellt, diese Kurden werden jetzt von der Türkei bombardiert. Was soll das für eine Strategie sein?

    Dass die NATO und der gesamte Westen dem immer islamistischer auftretendem Erdogan den Rücken stärken, ist extrem erschreckend.

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