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Berlin/Bonn. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern sei, so die bisherige Erfahrung, kein Schreckgespenst, sondern in Notlagen – wie beim Oder-Hochwasser oder jetzt in der Flüchtlingskrise – häufig die einzige Möglichkeit, schwierige Lagen unter Kontrolle zu bringen. Diese Bewertung stammt von Wilfried Lorenz, der uns zum Thema „Flüchtlingshilfe der Streitkräfte“ einige aktuelle, interessante Fakten liefert. Der CDU-Bundestagsabgeordnete, der Mitglied des Verteidigungsausschusses ist, warnt auch: „Soldaten werden – vereinfacht gesagt – nicht Soldaten, um Flüchtlinge zu registrieren. Soldaten werden Soldaten, um den Soldatenberuf auszuüben.“ Damit nimmt der Politiker auch Stellung zu der jüngsten Weisung von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die Strukturen der Bundeswehr auf einen dauerhaften Einsatz in der Flüchtlingshilfe auszurichten. Die SPD fordert mittlerweile unter anderem in einem Positionspapier, das der Redaktion bundeswehr-journal vorliegt, vorzeitig in den Ruhestand versetzte Soldaten und zivile Beamte zu reaktivieren.

Über die ministerielle Weisung, in welchem Umfang und wie die Truppe Bund und Länder bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms helfen kann, haben wir bereits vor Kurzem berichtet (siehe hier). Mittlerweile ist die Zahl der Frauen und Männer in Bundeswehruniform, die ihren Dienst im Inneren versehen, weitaus höher als die Zahl der zu Auslandseinsätzen abkommandierten Kameradinnen und Kameraden (insgesamt sind mit Stand 13. November 2768 Bundeswehrsoldaten unmittelbar bei Auslandsmissionen eingesetzt).

Doch lassen wir jetzt den Bundestagsabgeordneten Lorenz zu Wort kommen. Der CDU-Politiker nennt in der aktuellen Ausgabe seines Pressedienstes „Bericht aus Berlin und Hannover“ Zahlen und Fakten zu den Unterstützungsleistungen der Bundeswehr im Rahmen der Flüchtlingshilfe.

„Große Aufgabe, die nicht in wenigen Tagen oder Monaten bewältigt sein wird“

Lorenz schreibt: „Angesichts des unvermindert anhaltenden Flüchtlingsstroms [hilft die Bundeswehr nun] mit Liegenschaften bei der Unterbringung sowie mit Personal, Verpflegung und medizinisch bei der Versorgung von Flüchtlingen – und zwar zeitlich nachhaltig. Dies liegt darin begründet, dass schon jetzt absehbar ist, dass die große Aufgabe, vor der wir alle stehen, nicht in wenigen Tagen oder Monaten bewältigt sein wird. […] Die ‚Helfenden Hände‘ der Bundeswehr umfassen momentan bis zu 4000 Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigte. Derzeit werden davon etwa 1800 tatsächlich abgerufen. Rechnet man eine Abrufbereitschaft von 24 Stunden bei sieben Tagen die Woche, bedeutet dies etwa 12.000 Soldatinnen und Soldaten sowie zivile Bedienstete, die von Landkreisen und kreisfreien Städten abgerufen werden können. Über die ‚Helfenden Hände‘ hinaus versorgen noch rund 2000 Bundeswehrangehörige Flüchtlinge und helfen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF.“

Hinzu komme die Bereitstellung von Bundeswehrliegenschaften, so Lorenz weiter. Aktuell seien rund 32.200 Flüchtlinge in 140 Zelten und 74 Kasernen, die teils vollständig oder teils neben dem aktiven Grundbetrieb mitgenutzt werden, untergebracht. Der Sanitätsdienst habe mit fast 200 Ärzten und Sanitätern bislang etwa 14.500 Flüchtlinge behandelt sowie beheizbare Behandlungsräume und mobile Röntgengeräte zur Verfügung gestellt. Das Verpflegungsamt der Bundeswehr habe bisher bereits über eine halbe Million Verpflegungsleistungen – auch für die ehrenamtlichen Helfer – erbracht. Darüber hinaus würden Betten, Decken, mobile Duscheinrichtungen, Bekleidung und Stromaggregate gestellt.

Vorrangige Aufgabe sei allerdings gegenwärtig die Herstellung der Winterfestigkeit der Wartezentren. Lorenz: „Insgesamt wird hier Material und Personal eingesetzt, das für andere Zwecke eingeplant ist. Logische Konsequenz sind Mehrausgaben, weil aufgebrauchtes Material ersetzt werden muss und der große Flüchtlingsansturm zusätzliche Ankäufe erfordern dürfte. Mit all diesen Leistungen – insbesondere durch Abstellung von Personal – unterstützt die Bundeswehr das BAMF, die Länder, Kommunen und ehrenamtliche Träger.“

Verteidigungsministerin muss endlich eine rote Linie definieren

Der Deutsche Bundeswehr-Verband (DBwV) sorgt sich angesichts des insgesamt reduzierten Personalumfangs der Streitkräfte, der nicht geringer werdenden Bündnisverpflichtungen und der Belastungen der Truppe durch Auslandseinsätze um die Stabilität des gesamten Aufgabenpakets.

Dazu André Wüstner, Bundesvorsitzender der Interessenvertretung: „Einmal mehr holt die Truppe die Kastanien aus dem Feuer. Nach dem Ebola-Einsatz und der Seenotrettung im Mittelmeer ist die Flüchtlingshilfe die nächste Tätigkeit außerhalb unseres originären Aufgabengebiets. Wie üblich packen die Soldaten und die zivilen Beschäftigten mit Herz und Leidenschaft an. Aber wenn wir derzeit als eine Art ,strategische Reserve der Kanzlerin’ im Inland eingesetzt werden, erwarten wir auch, dass die entsprechenden organisatorischen Folgerungen für die Bundeswehr gezogen werden.“

Die Verteidigungsministerin habe als Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt eine ganz besondere Verantwortung, erinnert Oberstleutnant Wüstner. Von der Leyen müsse endlich eine rote Linie definieren. Die Unterstützungsleistungen der Bundeswehr müssten dort enden, wo militärische Ausbildung und Übung für die zunehmenden Einsätze gefährdet seien.

Truppe eine Art „Technisches Hilfswerk in Flecktarn“?

Konkret fordert der DBwV die Einleitung der personellen Aufstockung der Bundeswehr und der sofortigen Ersatzbeschaffung der Ausstattung, die für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt wurde. Wüstner warnt: „Bei allem Verständnis – es reicht nicht, einfach ein Kontingentsystem für die Amtshilfe zu schaffen. Auch für diesen sicherlich länger andauernden Einsatz brauchen wir mehr Personal und Material. Es ist schizophren, wenn wir einerseits den Feldlageraufbau im gefährlichen Irak an zivile Firmen vergeben müssen, und andererseits als eine Art ,THW in Flecktarn’ im Inland mit Pionieren Amtshilfe beim Aufbau und Betrieb von Flüchtlingseinrichtungen leisten. Wir benötigen die Möglichkeit, die Personalstärke zu erhöhen, wenn wir angesichts der neuen Aufgaben bestehen wollen, die sich aus den weltweiten Krisen und Konflikten ergeben.“

Notwendig sei auch, ausscheidenden Zeitsoldaten den schnelleren Übergang in den öffentlichen Dienst zu ermöglichen und so beispielsweise den enormen Personalbedarf von BAMF, Polizei oder anderen zu decken, verlangte Bundesvorsitzender Wüstner.

Pool der Sprachmittler aus dem Einsatz in Afghanistan nutzen

Auch die Sozialdemokraten wollen mehr Personal für die Streitkräfte. In einem Positionspapier der Arbeitsgruppe „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ der SPD-Bundestagsfraktion heißt es: „Die Bundeswehr leistet derzeit unverzichtbare Hilfe dabei, die große Zahl der nach Deutschland geflüchteten Menschen unterzubringen, zu verpflegen und die Bearbeitung von Asylanträgen zu beschleunigen. […] Da bereits heute absehbar ist, dass diese Unterstützungsleistungen mehrere Monate aufrechterhalten werden müssen, sollte dringend über Möglichkeiten der Entspannung der Personallage diskutiert werden.“

Die Parlamentarier sind der Meinung, dass Flüchtlingshilfe durch die Bundeswehr dauerhaft nur mit einem entsprechend temporär verstärkten Personalkörper funktionieren kann.

Die SPD schlägt deshalb in ihrem Positionspapier vor, ehemalige Mitarbeiter, die im Zuge der Neuausrichtung der Bundeswehr in den vorzeitigen Ruhestand geschickt worden sind, zu reaktivieren. Diese „Tausende Mitarbeiter“ seien ein bislang „nicht angetastetes Reservoir an Fachkräften“, das genutzt werden sollte, anstatt aktive Angehörige der Bundeswehr abzukommandieren, wird in dem Papier vorgeschlagen. Und weiter: „Dienstrechtlich wäre es möglich, dass das Bundesministerium der Verteidigung diese Fachkräfte einseitig für bis zu zwei Jahre wieder in den aktiven Dienst versetzt. Dies halten wir allerdings nicht für notwendig, da es eine große Bereitschaft von Soldaten und zivilen Mitarbeitern gibt, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren und freiwillig in den aktiven Dienst zurückzukehren.“

Die Verfasser des Positionspapiers schlagen der Bundesregierung schließlich konkret vor, für den Zeitraum der Reaktivierung die Hinzuverdienstgrenzen für die Kräfte, die freiwillig in den aktiven Dienst zurückkehren, auszusetzen. Kein unbedeutender Anreiz!

Und noch ein interessanter Vorschlag wird gemacht: Das Verteidigungsministerium sollte unbedingt den Pool der Sprachmittler aus dem Einsatz in Afghanistan nutzen, so die SPD-Arbeitsgruppe. Denn: „In Erstaufnahmeeinrichtungen besteht großer Bedarf an Sprach- und Kulturmittlern, die bei der Überwindung bürokratischer und kultureller Hürden behilflich sind. Die in Afghanistan eingesetzten Sprachmittler sind für diese Aufgabe prädestiniert.“

Warum nicht die vorhandenen Personalressourcen der Länder nutzen?

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Wilfried Lorenz hat zu der ganzen Problemstellung eine völlig gegensätzliche Meinung. In seinem „Bericht aus Berlin und Hannover“ können wir sie nachlesen: „Vorschläge, eine noch größere Zahl von Soldaten für die Flüchtlingshilfe abzustellen oder gar pensionierte Angehörige der Streitkräfte zu ‚reaktivieren‘, sind vor dem Hintergrund der Gesamtschau nationaler und internationaler Anforderungen bestenfalls Stückwerk. Vor allem setzen sie die völlig falschen Akzente. Die Bundeswehr ist keine Flüchtlings-, sondern eine Einsatzarmee. Daher darf weder der Ausbildungsbetrieb in den Kasernen beeinträchtigt noch die Personalbasis für Missionen weltweit geschmälert werden.“

Was aber schlägt der Unionspolitiker vor, um die Bundeswehr zu entlasten? Er rät, vorhandene Personalressourcen der Länder zu nutzen. Und dabei „kreativ zu denken“. Lorenz regt an: „Könnten nicht Beamte aus Staatskanzleien, Landesministerien oder nachgeordneten Behörden – gerne in Zyklen – einige Monate Unterstützungsleistungen vor allem im administrativen Bereich der Flüchtlingshilfe erbringen? Könnte der Bundesrat sich nicht auf eine entsprechende Initiative einigen? Müssten nicht gerade die Länder ein besonderes Interesse haben, das Heft in die Hand zu nehmen und so die Verfahren zu beschleunigen?“ Ein Ansatz, den man nicht sofort verwerfen sollte. Im Gegenteil – kreativ weiterdenken! …


Zu unseren Aufnahmen:
1. Versorgung von Flüchtlingen in der Bundeswehrkaserne in Feldkirchen. Das Bild entstand am 1. Oktober 2015.
(Foto: Thomas Trutschel/photothek/Bundeswehr)

2. Bundeswehrsoldatin hilft bei der Betreuung von Flüchtlingsfamilien in Lemgo.
(Foto: Detlef Struckhof/Reservistenverband)

3. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen informiert sich am 1. Oktober 2015 am Standort Neubrandenburg über die Arbeit der Erstaufnahmestelle und die Flüchtlingshilfe der Bundeswehr.
(Foto: Thomas Trutschel/photothek/Bundeswehr)


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