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Berlin/Kabul (Afghanistan). Manchmal kommt der Anruf mitten in der Nacht, manchmal trifft auch nur eine Textnachricht ein. Aber die Warnungen gleichen sich – es sind Todesdrohungen. Todesdrohungen, weil der Empfänger in Afghanistan bei der Bundeswehr oder anderen deutschen Arbeitgebern beschäftigt war oder dort immer noch unter Kontrakt steht. Rund 1500 Afghanen haben seit Beginn der ISAF-Mission im Jahr 2001 für die Deutschen gearbeitet. Meist als Übersetzer, Fahrer oder Wachpersonal. Die Bürokratie bezeichnet diese Helfer als „Ortskräfte“. Viele von ihnen fürchten sich nun vor dem Abzug der NATO-Kampftruppen und der Rache der radikalen Taliban. Bislang stellten 766 afghanische Ortskräfte aufgrund ihrer Gefährdung im Heimatland einen Antrag auf Aufnahme in Deutschland. 300 erhielten bereits eine Aufnahmezusage. 476 Anträge afghanischer Mitarbeiter auf Einreise nach Deutschland wurden bis jetzt allerdings abgelehnt (Stand 16. April 2014). In Afghanistan unentbehrlich, im Ausland unerwünscht – unser zweiteiliger Beitrag über die lokalen Helfer der ISAF …

Im Dezember vergangenen Jahres lockerte die Bundesregierung ihre bis dahin eher restriktive Haltung in der Frage der Aufnahme afghanischer Ortskräfte und deren Familienangehörigen. Davor gab lange Zeit die Bürokratie den Bremser. Beklagt wurde dies beispielsweise vom Internationalen Verband der Konferenzdolmetscher (AIIC) und vom Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ). In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel forderten die Interessenvertretungen am 9. Juli 2013 „aus dringenden humanitären Gründen“ ein vereinfachtes Asylverfahren für die afghanischen Dolmetscher der Bundeswehr. AIIC und BDÜ kritisierten: „Aktuelle Praxis sind Einzelfallprüfungen durch eine interministerielle Arbeitsgruppe, die bisher alle Asylanträge abgelehnt hat.“

Dolmetscher der Bundeswehr in Kunduz-Stadt ermordet

Vielleicht war es das Schicksal von Dschawad Wafa, das den Druck auf die Regierung Merkel erhöht und diese zur Kurskorrektur bewogen hatte. Der 25-Jährige arbeitete seit Januar 2009 als Übersetzer für die Bundeswehr und stand bereits auf der Behördenliste der afghanischen Ortskräfte, denen wegen der Taliban-Bedrohung die Einreise nach Deutschland zugesagt worden war. Wafa und seine Familie war in der Vergangenheit mehrfach von Unbekannten schriftlich und am Telefon bedroht worden, weil er „für die Ausländer“ tätig war.

Am Morgen des 24. November 2013, einem Sonntag, wurde der Dolmetscher in Kunduz-Stadt tot in seinem Auto entdeckt, erwürgt, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Kurze Zeit später konnten Ermittler zwei Verdächtige festnehmen, einer von ihnen der Sohn eines regionalen Talibanführers. Obwohl die afghanischen Behörden die beiden Inhaftierten immer noch für die Mörder Wafas halten, wurden die Männer nach Informationen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel inzwischen bereits wieder gegen Kaution freigelassen.

Bundesinnenministerium um Verfahrensbeschleunigung bemüht

Das Verfahren zur Aufnahme gefährdeter afghanischer Ortskräfte und ihrer engsten Familienangehörigen war von der Bundesregierung bereits im Herbst vergangenen Jahres beschlossen worden. Es handelt sich bei diesem Personenkreis um afghanische Mitarbeiter des Bundesministeriums der Verteidigung, des Auswärtigen Amtes sowie des Bundesministeriums des Innern, deren Beschäftigungsverhältnis aufgrund der Reduzierung der deutschen Präsenz in Afghanistan endet. Dieses Verfahren gilt analog für die Mitarbeiterschaft der im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Afghanistan tätigen Institutionen.

Nach zunächst zeitlichen Verzögerungen hatte sich das Bundesinnenministerium im Laufe der letzten Monate um eine Verfahrensbeschleunigung bemüht. Mit Stichtag 7. Februar 2014 war bereits 49 afghanischen Ortskräften mit insgesamt 111 Familienangehörigen ein Visum für eine Einreise in Deutschland erteilt worden.

In ihrer Antwort auf eine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Aufnahme gefährdeter Ortskräfte in Deutschland“ teilt die Bundesregierung jetzt am 29. April mit: „Für jede afghanische Ortskraft, die eine mögliche Gefährdung angezeigt hat, findet eine individuelle Prüfung statt. Ergibt diese Prüfung eine konkrete oder latente Gefährdung, erhält die Ortskraft eine Aufnahmezusage für Deutschland. Bislang wurden 766 Fälle geprüft (davon 666 aus dem Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung, 99 aus dem Bereich des Bundesministeriums des Innern und einer aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes). Insgesamt 300 Ortskräften wurde – Stand 16. April 2014 – eine Aufnahmezusage erteilt. Zur Anzahl der Familienangehörigen, die in die Aufnahmezusagen mit einbezogen wurden, liegen keine statistischen Angaben vor.“

Mehrzahl der afghanischen Antragsteller wurde abgelehnt

Zeitgleich mit der Veröffentlichung der Regierungsantwort befasste sich die ARD-Sendung „Report Mainz“ mit aktuellem Zahlenmaterial des Bundesinnenministeriums. Das Fazit der Redakteure: „Weniger als ein Drittel der afghanischen Ortskräfte, die um Aufnahme in Deutschland gebeten haben, erhielten bislang eine Zusage.“ Die Zahlen der Bundesregierung bestätigen dies: „Von denjenigen afghanischen Ortskräften, die eine Gefährdung geltend gemacht haben, wurden 476 als nicht individuell gefährdet eingestuft, davon 424 aus dem Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung, 51 aus dem Bereich des Bundesministeriums des Innern und einer aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes (Stand: 16. April 2014).“

Der Anfrage von „Report Mainz“ beim Bundesinnenministerium zufolge haben (bis zum Stichtag 29. April 2014) insgesamt 976 afghanische Helfer gegenüber deutschen Behörden ihre Gefährdung angezeigt. 773 Fälle seien mittlerweile bearbeitet worden, 302 Ortskräfte hätten eine Aufnahmezusage erhalten. 111 Ortskräfte seien nach Deutschland eingereist, so das Ministerium gegenüber der ARD. Das Politmagazin: „In mehr als zwei Drittel der Fälle wurde also entweder keine Aufnahmezusage erteilt oder die Fälle wurden noch nicht bearbeitet.“

Laut Auskunft der Bundesregierung sind gemeinsam mit den 110 Ortskräften auch 242 Familienangehörige aus Afghanistan mit nach Deutschland eingereist.

Flucht von Afghanistan nach Deutschland auf eigene Faust

Nach Recherchen von „Report Mainz“ sehen sich viele Ortskräfte aufgrund langwieriger Verfahren gezwungen, auf eigene Faust, ohne Hilfe der Bundesregierung und ohne ein Visum nach Deutschland zu fliehen. Hier durchlaufen sie das normale Asylverfahren, das für Afghanen nach Angaben der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Pro Asyl derzeit rund ein Jahr dauern kann.

In einem Interview mit dem ARD-Magazin erklärte dazu der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl, Bernd Mesovic: „Die Bundesregierung lässt nach wie vor einen Teil der Betroffenen völlig im Stich. Sie schließt Leute aus, die aus unserer Sicht gefährdet sind, und die sich dann auf eigene Faust durchschlagen müssen. Viele landen in Booten, es gibt Todesfälle.“ Die Bundesregierung habe ihr Versprechen, gefährdete Ortskräfte nach Deutschland zu holen und die Verfahren zu entbürokratisieren, nicht eingelöst, meint Mesovic. „Das war überwiegend heiße Luft. Weder können alle kommen, die es brauchen, noch geht es mit der notwendigen Zügigkeit und Eile.“

Sind die Aufnahmeverfahren „zu langwierig und intransparent“?

Der außenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Omid Nouripour, äußerte sich im vergangenen Monat ebenfalls zu den aktuellen Zahlen der Bundesregierung und des Bundesinnenministeriums: „Es ist schon ein Skandal, dass nach all den Jahren, in denen wir diskutiert haben, es immer noch nicht funktioniert, dass die Leute unbürokratisch in Deutschland Aufnahme finden.“ Im Interview mit „Report Mainz“ bezeichnete der Parlamentarier die Verfahren als „viel zu langwierig und vor allen Dingen intransparent“. Ablehnungen würden gegenüber den Ortskräften nicht begründet. „Wir reden hier über einen Personenkreis, der gefährdet ist, weil er uns geholfen hat. Diese Menschen sind im Fadenkreuz der Taliban, weil sie für die Bundeswehr gearbeitet haben“, so Nouripour.

Bereits am 4. Juni 2013 hatte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung aufgefordert, allen afghanischen Ortskräften, die in ihrem Heimatland für die Bundeswehr gearbeitet haben, und ihren engen Familienangehörigen eine Aufnahme in Deutschland anzubieten. Zudem solle die Regierung vergleichbare Regelungen auch für Ortskräfte finden, „die besonders gefährdet sind“ und die für das Auswärtige Amt, staatliche Organisationen der Bundesrepublik oder im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit für Deutschland tätig waren oder noch tätig sind. Gegebenenfalls sollten auch deren enge Angehörige eine Aufnahme bei uns erhalten.

Der Bundestag lehnte diesen Antrag am 27. Juni 2013 gegen die Stimmen von SPD und Grünen und bei Enthaltung der Linksfraktion ab. Er folgte damit einer Empfehlung des Innenausschusses.

Starker Anstieg gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Kräfte

Wie groß unter den afghanischen Ortskräften der Bundeswehr die Angst vor den Aufständischen ist, zeigte das Osterwochenende 2013. An diesen letzten Tagen im März demonstrierten ehemalige Übersetzer der Deutschen vor dem Feldlager in Kunduz und forderten auf Protesttafeln Schutz für sich und ihre Familien. Wie in Nordafghanistan, so fürchten auch in anderen Landesteilen viele Helfer der Koalitionstruppen bei einer Rückkehr der Taliban um ihr Leben. Diese hatten wiederholt angekündigt, jeden zu ermorden, der „mit den Ausländern kollaboriert“.

Viele Zahlen und Fakten sprechen dafür, dass diese Drohungen ernst gemeint sind. So dokumentierte die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA: United Nations Assistance Mission in Afghanistan) in ihren letzten drei Jahresberichten einen erschreckenden Anstieg gezielter Tötungen von Zivilisten durch – so die UNAMA-Sprachregelung – regierungsfeindliche Elemente. Im Jahr 2011 fielen diesen Anschlägen 495 Regierungsmitarbeiter und afghanische Ortskräfte zum Opfer, 2012 waren es bereits 698 und im vergangenen Jahr schließlich 743.

Die dänische Einwanderungsbehörde (DIS: Danish Immigration Service) zitierte schon im Mai 2012 in einem Bericht über eine Untersuchungsmission in Kabul verschiedene Quellen zur Lage der ISAF-Helfer. Afghanen, die Verbindungen zum US-Militär unterhielten, seien typische Taliban-Anschlagsziele. Dabei sei nicht von Belang, wie sich dieses Verhältnis zu den westlichen Truppen gestalte, gefährdet seien nahezu alle: Auftragnehmer, Servicepersonal, Fahrer, Dolmetscher. ISAF-Mitarbeiter, die nahe der Stützpunkte lebten, seien von einem höheren Risiko betroffen als solche, die aus anderen Gebieten kämen. Der Großteil der für das Militär arbeitenden Personen versuche, diese Tätigkeit geheim zu halten, schreibt der DIS.

Auch nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IMO: International Organization for Migration) sind Afghanen, die „für das US-Militär oder die ISAF arbeiten, in einem größeren Ausmaß gefährdet als andere Gruppen“. Übersetzer seien von einem größeren Risiko bedroht als andere Angestellte, wie etwa Reinigungskräfte. Familienmitglieder der afghanischen Ortskräfte seien von den Drohungen ebenfalls betroffen.

Bedrohungen, Einschüchterungen und Erpressungen

Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR: United Nations High Commissioner for Refugees) äußerte sich im Dezember 2013 über die Gesamtsituation in Afghanistan wie folgt: „Die derzeitige Menschenrechtssituation dort ist durch die wachsende Kontrolle der Zivilbevölkerung durch regierungsfeindliche Kräfte geprägt. Parallele Justizstrukturen wurden etabliert, illegale Strafen verhängt. Bedrohungen, Einschüchterungen, Erpressungen und die Eintreibung illegaler Steuern gehören zum Alltag in vielen Teilen des Landes.“ Mit dem Abzug der internationalen Truppen habe sich auch die Natur des Konfliktes verändert, so UNHCR. Nunmehr würden vermehrt Zivilisten angegriffen. Besonders gefährdet seien Personen, von denen die Taliban vermuteten, dass diese die NATO unterstützen. Ortskräfte der ISAF-Truppen seien mit hoher Wahrscheinlichkeit von Einschüchterungen durch die Taliban betroffen. Dolmetscher und lokale Fahrer, die für Unternehmen arbeiten, die die Stützpunkte beliefern, seien gefährdet.

Auch die Vereinigung „All Afghan Women Union“ (AAWU) bestätigte erst vor Kurzem wieder, dass afghanische Dolmetscher, die für die ausländischen Streitkräfte arbeiten, „besondere Ziele“ seien. Identische Informationen hinsichtlich der Taliban-Bedrohung kommen auch von der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC: Afghanistan Independent Human Rights Commission) und anderen Organisationen.

Den zweiten Teil unseres Beitrages „Im Fadenkreuz der Taliban – hoffen auf Deutschland“ veröffentlichen wir in den nächsten Tagen (siehe hier).



Zu unserem Bildangebot:
1. Ein Angehöriger des Bereichs „Operative Information“ der Bundeswehr macht im nordafghanischen Faizabad im Juli 2009 mit Handzetteln auf die Einweihung einer neuen Brücke aufmerksam. Ein Dolmetscher begleitet ihn.
(Foto: Dana Kazda/PrInfoZ Heer/Bundeswehr)

2. Afghanischer Dolmetscher im deutschen Feldlager Mazar-e Sharif.
(Foto: Enno Heidtmann)

3. Fachkräfte der GAFTAG (German Armed Forces Technical Advisory Group/Technische Beratergruppe) unterstützen in der afghanischen Hauptstadt Kabul die Ausbildung der nationalen Logistiktruppe – rechts ein einheimischer Sprachmittler. Das Bild entstand im Dezember 2010.
(Foto: Martin Stollberg/Bundeswehr)

4. Screenshot eines Videos, das die Proteste afghanischer Übersetzer vor der britischen Botschaft in Kabul dokumentiert. Die Demonstranten fühlen sich von den Taliban bedroht und fordern Asyl in Großbritannien.
(Foto: Wali Sabawoon/Radio Free Afghanistan)


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