Kabul (Afghanistan). Es ist ein nachdenklich stimmendes Buch voller erschütternder Momente, die mitunter eine einschneidende Traurigkeit über den Leser breiten. Es ist ein Buch, all jenen Reporterinnen und Reportern und ihren Helfern gewidmet, die beim Einsatz in Krisenregionen ihr Leben ließen. „Bilderkrieger“, das Buch des US-Amerikaners Michael Kamber, legt Zeugnis ab von jenen, die auszogen und ausziehen, uns die Augen zu öffnen. 20 Fotografinnen und Fotografen erzählten Kamber, warum es sie an die gefährlichsten Orte der Welt zieht. Sie schildern ihre Ängste, beschreiben ihre Hoffnungen und erinnern sich an Momente schauderhafter Barbarei und Augenblicke berührender Menschlichkeit. Der deutsche Journalist Fred Grimm übersetzte die Interviews ins Deutsche. Zusätzlich führte er ein langes Gespräch mit der deutschen Fotoreporterin Anja Niedringhaus, kurz bevor sie nach Afghanistan reiste. Dort, im Tani-Distrikt der Provinz Khost, kam sie am 4. April 2014 bei einem Anschlag ums Leben.
Der Fotograf Michael Kamber, geboren 1963 im US-Bundesstaat Maine, arbeitet seit rund 25 Jahren in Kriegs- und Konfliktgebieten wie dem Irak, Afghanistan, Haiti, Darfur oder dem Kongo. Meist war und ist er im Auftrag der New York Times unterwegs – zurzeit als Korrespondent im Times-Büro in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Seine Bilder wurden weltweit veröffentlicht und mit dem „World Press Photo Award“ und dem „American Photo Image of the Year“ ausgezeichnet.
Das Buch „Bilderkrieger“ basiert auf der amerikanischen Publikation von Kamber „Photojournalists on War: The Untold Stories from Iraq“. Während es in der US-Ausgabe vor allem um den Irakkrieg geht, liegt der Fokus von „Bilderkrieger“ auf der Profession der Kriegsfotografen. Wie erleben Fotojournalisten die kriegerische Auseinandersetzung, wie den Wandel in der Medienlandschaft? Welche persönlichen Erfahrungen bewegen sie? Welche Missionen verfolgen sie?
Die zwischen 2008 und 2012 geführten Interviews konnten nur deshalb so entstehen, wie sie entstanden sind, weil Michael Kamber den Fotografinnen und Fotografen als Seelenverwandter begegnete. Denn, so heißt es in der Einleitung: „Man muss wissen, dass Fotografen für gewöhnlich keine großen Redner sind, besonders dann nicht, wenn es um ihre Ängste, Wünsche und Hoffnungen geht. Aber Kamber traf die Fotografen als Freund, als Schlachtgefährte, der mit ihnen Fertignahrung und Angst geteilt hatte.“
Und warum das Projekt überhaupt? „Ein Tod, den niemand dokumentiert, ist ein vergessener Tod“ – diese Antwort des Fotojournalisten João Silva bietet eine erste Erklärung. War er es doch, der gemeinsam mit seinem Freund Michael den Ausweg aus einem Dilemma suchte. Silva und Kamber hatten Bilder gemacht, die auf den Titelseiten der Weltpresse gedruckt worden waren. Bilder, für die sie Preise und Ruhm geerntet hatten. Sie hatten ihr Leben riskiert, wieder und wieder. Aber war dennoch nicht alles umsonst gewesen? Ihr Zweifel war in den letzten Jahren gewachsen – gestiegen mit der Bilderflut der digitalen Berichterstattung von den Konfliktschauplätzen rund um den Globus. Eine Bilderflut, die über den Betrachter hinwegrauscht. Kamber, so berichtet uns die Einleitung zu „Bilderkrieger“: „Kamber sagte, wie wäre es, wenn wir der Bilderflut ein Dokument entgegensetzten? Ein Buch! Es sollte nicht die Fotos zeigen, die die Welt schon kannte, sondern die Bilder, die so brutal und ehrlich sind, dass keine Zeitung sie auf die Titelseite nimmt. Und es sollte die Fotografen zu Worte kommen lassen, die diese Bilder gemacht hatten.“ Und schließlich, so hatten Michael Kamber und João Silva gehofft, würde ein Werk entstehen, an das sich die Menschen erinnern.
Am Ende aller Recherchen waren 72 Interviews mit Fotojournalisten und Kriegsreportern beiderlei Geschlechts entstanden. 20 davon finden sich im vorliegenden Buch, das im Juni vergangenen Jahres als deutsche Erstausgabe erschienen ist, wieder. Immer noch riskieren Tag für Tag weltweit Hunderte Fotografinnen und Fotografen ihr Leben für ein Abbild der menschlichen Abgründe und des menschlichen Mitleidens. Ihnen zu Ehren schließt die Publikation mit dem Essay „Ein Bild vom Krieg in neun Fotografien“ – denn „nur wenn wir die Welt sehen, wie sie ist, werden wir anfangen können, sie zu verändern.“ (Michael Kamber)
Wenn Fotografen in Kambers „Bilderkrieger“ erzählen, wird immer wieder auch der Buchtitel infrage gestellt. Eigentlich passt er nicht, ist zu martialisch. Denn in fast jedem Interview wird rasch deutlich, dass das Motiv für den gefährlichen journalistischen Einsatz an der Krisen- und Kriegsfront einem gemeinsamen Wunsch entspringt: Man will kein „Bilderkrieger“ sein, sondern neutraler Beobachter und Chronist des Lebens und des Sterbens, man will den „Krieg für die Geschichtsbücher dokumentieren“, das „Unrecht festhalten“, die „Momente der Menschlichkeit zeigen“, Bilder für „das kollektive Gedächtnis“ schaffen – man will „helfen, aufrütteln, wach machen“. Oder, wie es der US-Amerikaner Peter van Agtmael formulierte: „Ich finde die Idee inspirierend, dass Fotografie dazu beitragen kann, Kriege zu beenden. Ich bin wahrscheinlich hoffnungslos lächerlich und naiv, aber auf lange Sicht ist das ein Ziel, das wir anstreben sollten.“ Das dabei allen Kolleginnen und Kollegen gemeinsame Ideal beschreibt van Agtmael zum Schluss mit drei Worten: „Die Wahrheit erzählen!“
Anja Niedringhaus, seit 2002 in der Welt unterwegs für die Nachrichtenagentur Associated Press (AP), war 2005 gemeinsam mit einem Team von AP-Fotografen für ihre Berichterstattung im Irak mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet worden. In ihrem Gespräch mit Fred Grimm für das Buchprojekt „Bilderkrieger“ gestand die Reporterin: „Ich habe mich ein bisschen in Afghanistan verliebt. Das sind wunderbare Menschen dort, diese Gastfreundschaft, diese Ehrlichkeit. Natürlich gibt es nicht nur das, aber ich habe so oft erlebt, wie diejenigen, die ganz wenig haben, trotzdem ganz viel geben.“
Ihr gehe es bei ihrer Arbeit darum, so Niedringhaus zu Grimm, die Geschichten der Menschen zu erzählen, die in Konfliktzonen wie in Afghanistan ihren Alttag meistern müssten. Ihre Stimmen würden oft vergessen oder ignoriert. „Mit meinen Bildern möchte ich dazu beitragen, dass wir ihr Leben und ihre Kultur besser verstehen lernen.“ Auch die deutsche Fotografin war ausgezogen, um uns die Augen zu öffnen.
Anja Niedringhaus starb am 4. April 2014 im Tani-Distrikt der ostafghanischen Provinz Khost. Die 48-Jährige wurde nach Angaben der Sicherheitskräfte vom Polizeikommandanten eines Checkpoints in Banda Khel erschossen. Die kanadische Journalistin Kathy Gannon (60), mit der Niedringhaus im geschützten Konvoi zur Berichterstattung über die Präsidentschaftswahl in die Provinz gefahren war, überlebte den Anschlag in der Nähe des Büros des Distriktgouverneurs schwer verletzt.
Christian Mihr, Geschäftsführer der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (ROG), erklärte am 4. April in Berlin bestürzt: „Der Angriff zeigt, wie extrem gefährlich Afghanistan für Journalisten immer noch ist.“ ROG zufolge wurden seit 2002 mindestens 19 Journalisten in Afghanistan im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet, darunter auch die Deutschen Karen Fischer und Christian Struwe (beide wurden 2006 erschossen). Afghanistan steht in der ROG-Rangliste der Pressefreiheit aktuell auf Platz 128 von 180.
Der 25 Jahre alte Mörder von Anja Niedringhaus, ein Polizist namens Naqibullah, hatte sich nach der Tat widerstandslos von afghanischen Polizeikräften festnehmen lassen. Wie ein Pressesprecher später erklärte, sei das Motiv für den Anschlag „offenbar Rache für ein NATO-Bombardement auf das Dorf des Täters in seiner Heimatprovinz Parwan“ gewesen.
AP-Chefredakteurin Kathleen Carroll würdigte in New York die Opfer des Anschlages mit den Worten: „Anja und Kathy haben gemeinsam viele Jahre aus Afghanistan über den dortigen Konflikt und die Menschen im Land berichtet. Anja war eine leidenschaftliche, dynamische Journalistin gewesen, geachtet und geliebt für ihre einfühlsamen Fotografien, ihre Freundlichkeit und ihrer Lebensfreude. Uns bricht es das Herz über diesen Verlust.“
Gary Pruitt, Präsident von AP, wandte sich in einer persönlichen Erklärung an die Belegschaft der Nachrichtenagentur. Mit Anja Niedringhaus beklage AP seit seiner Gründung im Jahr 1846 bereits das 32. Opfer von Gewalt, das in Ausübung journalistischer Tätigkeit gestorben sei. Dieser Beruf brauche die Mutigen und die Leidenschaftlichen – Menschen, die sich der Aufgaben verpflichtet fühlten, der Welt wahre, genaue und wichtige Nachrichten zu liefern. Anja Niedringhaus habe dieser Definition auf jede erdenkliche Weise entsprochen, würdigte Pruitt die verstorbene Kollegin. Und er fügte hinzu: „Anja war inspiriert, unerschrocken, ja furchtlos, mit einem heiseren Lachen, das uns immer in Erinnerung bleiben wird.“
Bildhinweise:
1. Das Buchcover zeigt im unteren Bereich eine Aufnahme des gebürtigen Portugiesen João Silva. Der Fotograf verlor im Oktober 2010 bei einer Minenexplosion in Afghanistan beide Beine.
(Titelfoto oben: Wittkowsky und Bammert, Berlin)
2. 16. September 2009, in der Bergregion von Faizabad in Nordafghanistan: AP-Reporterin Anja Niedringhaus – kleines Bild – fotografierte an diesem Tag einen 34 Jahre alten Bundeswehrsoldaten, der bei Kerzenlicht seinen Geburtstag feierte.
(Foto: Anja Niedringhaus/AP)