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Kabul (Afghanistan). Eine düstere Prognose über Afghanistans Zukunft formuliert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in ihrem am 31. Januar erschienenen „World Report 2013“. Um die Menschenrechte in der Islamischen Republik sei es insgesamt nicht gut bestellt, urteilt HRW. Dieser Zustand könne sich nach dem Abzug der NATO-geführten Truppen im nächsten Jahr weiter verschlechtern. Mit ihrem 665 Seiten starken Bericht legt die Organisation bereits zum 23. Mal einen Jahresrückblick der wichtigsten Menschenrechtsentwicklungen vor und fasst Schlüsselereignisse aus über 90 Ländern weltweit zusammen.

Der Report stellt fest, dass sich unter den alliierten Truppen nach nunmehr elf Jahren Afghanistaneinsatz eine zunehmende Kriegsmüdigkeit breitmache. Dies führe auch dazu, dass nicht mehr der nötige Druck auf die Regierung des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai ausgeübt werde, um diese zu entschlossenem Vorgehen gegen Warlords, korrupte Politiker und Geschäftsleute sowie andere Menschenrechtsverletzer zu bewegen. „Der Schutz der Menschenrechte in Afghanistan ist in naher Zukunft ernsthaft in Gefahr,“ warnt Brad Adams, seit 2002 Asien-Direktor von Human Rights Watch. „Korruption, geringe Rechtsstaatlichkeit, eine schlechte Regierungsführung und eine menschenverachtende Politik berauben unzähliger schutzbedürftiger Bürgerinnen und Bürger der Islamischen Republik ihrer Grundrechte.“

Es sei damit zu rechnen, so warnt die Organisation in ihrem „World Report 2013“, dass sich die Situation mit dem stufenweisen Abzug der International Security Assistance Force (ISAF) noch vor Ende 2014 verschlechtern und damit die Gefahr für die Menschen Afghanistans, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden, erhöhen werde.

Paramilitärische Polizeikräfte begehen Verbrechen

Der HRW-Bericht bezieht sich auch auf ein Papier der Vereinten Nationen vom Januar dieses Jahres, das ebenfalls Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan anprangert. Trotz wachsender internationaler Kritik habe es im Land nach wie vor Folterungen und Misshandlungen von Afghanen durch nationale Polizei- und Geheimdienstkräfte gegeben, beklagen die Vereinten Nationen. Auch im Report von Human Rights Watch werden Übergriffe von Sicherheitspersonal auf die Zivilbevölkerung thematisiert.

Im Mittelpunkt der Kritik stehen hier insbesondere Angehörige der paramilitärischen afghanischen Hilfspolizeitruppe ALP (Afghan Local Police/Lokale Afghanische Polizei), die von Dorfgemeinschaften gestellt wird. Offiziell untersteht die ALP dem afghanischen Innenministerium; ausgebildet wird sie vom US-Militär und vom afghanischen Geheimdienst. Bereits im Herbst 2011 hatte Human Rights Watch ALP-Angehörige für Morde, Misshandlungen und Schutzgelderpressung verantwortlich gemacht. Im aktuellen HRW-Report wird jetzt darauf hingewiesen, dass die USA im vergangenen September die Ausbildung neuer ALP-Rekruten unterbrochen habe und nun alle 16.300 Angehörige dieses Programms einer erneuten Sicherheitsüberprüfung unterziehe. Es gab in der jüngsten Vergangenheit etliche weitere Berichte über Erpressung, Körperverletzung, Vergewaltigung und Ermordung von afghanischen Zivilisten durch ALP-Kräfte. Große Sorge bereite auch die wachsende Zahl von Anschlägen afghanischer Sicherheitskräfte auf ISAF-Angehörige, schreibt Human Rights Watch im „World Report 2013“.

Zunehmend aus der Öffentlichkeit verbannt

Einen besonderen Schwerpunkt widmet Human Rights Watch in seiner Afghanistan-Beurteilung der Notlage der Frauen. Seit der Verdrängung der Taliban von der Macht im Jahr 2001 hätte die weibliche Bevölkerung des Landes zwar grundlegende Rechte in den Bereichen Bildung, Wahlen und Arbeit wiedererlangen können. Alles in allem aber habe die Gewalt gegenüber Frauen zugenommen. Der Report von HRW kritisiert auch, dass das 2009 verabschiedete Gesetz zur Verhinderung von Gewalt gegen afghanische Mädchen und Frauen (Law on Elimination of Violence Against Women) „weitgehend wirkungslos“ geblieben ist – 2012 habe es, so die Organisation, einen besorgniserregenden Anstieg der Übergriffe gegeben.

Human Rights Watch erinnert zudem daran, dass Präsident Karsai es war, der im März 2012 eine niederschmetternde Erklärung des 150 Mitglieder zählenden Gelehrtenrates, des höchsten religiösen Gremiums Afghanistans, vorbehaltlos unterstützt habe. Darin habe der Rat verkündet, dass Frauen „zweitrangig“ seien.

Was dies konkret bedeutet, erläutert uns die renommierte Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher. Afghanische Frauen „sollen sich demnach in Zukunft mit Männern nicht mehr gemeinsam an einem Ort aufhalten, sei es in Bildungseinrichtungen, auf dem Markt, in öffentlichen Ämtern oder auf Reisen. Müssen sie unbedingt das Haus verlassen, dann nur in Begleitung eines engen männlichen Verwandten. Frauen sollen Scheidungsanträge verboten werden und sie sollen nur noch auf die Hälfte eines ,männlichen Erbteils‘ Anspruch erheben können. Damit würden Frauen weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt und ihnen grundlegende Menschenrechte vorenthalten.“ Weiter besage die Kabuler Erklärung: „Frauen sollen ihr Gesicht verschleiern, die Polygamie und die islamische Form der Scheidung respektieren (das heißt, die traditionelle Verstoßung der Frau durch den Mann ohne Beteiligung einer Rechtsinstanz und ohne Begründung). Das Ärgern, Schlagen und Quälen der Frauen sei verboten, so das Gelehrtengremium, soweit die Scharia es nicht erlaube: Das heißt, dass Frauen von ihrem Ehemann gezüchtigt werden dürfen, aber nur in den Fällen, in denen es das Schariarecht vorsieht, also vor allem wegen fehlendem Gehorsam.“

Schirrmacher, die unter anderem an der Universität Bonn lehrt und als Gastdozentin bei Landes- und Bundesbehörden im Bereich der Sicherheitspolitik unterrichtet, teilt die Befürchtungen von Human Rights Watch und sieht in Afghanistan „Frauenrechte wie zu Zeiten der Taliban“ aufkommen.

Journalisten an immer kürzerer Leine

Alarmierend sind auch die Hinweise von Human Rights Watch auf Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit. So habe es die Regierung Karsai geschafft, durch neue Gesetze und gezieltes Vorgehen gegen einzelne Journalisten im vergangenen Jahr Kritik oftmals schon im Ansatz zu ersticken.

Im Mai 2012 beispielsweise habe die Regierung einen ausländischen Journalisten der Spionage bezichtigt. Im November sei die International Crisis Group (ICG) ins Visier des Staates geraten, weil sie einen ungeschminkten Bericht über Afghanistan veröffentlicht hatte. Davor im Juni habe die Regierung die Einrichtung einer staatlich kontrollierten „Medien-Beschwerdestelle“ geplant, zudem sollten sich landesweit besondere Gerichte und Staatsanwälte mit „Verstößen der Pressearbeit“ befassen. Dank des Widerstandes besonders der nationalen Medien konnte dieses Regierungsvorhaben zunächst so nicht realisiert werden (allerdings ist im Oktober dann doch noch ein „Medien-Normenkontrollausschuss“ installiert worden).

Kaltgestellt wegen mutiger Recherchen?

Als ein Indikator für die zunehmende Beschneidung der Menschenrechte in Afghanistan kann auch die Lage von AIHRC gesehen werden. Die Afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission) genießt international einen ausgezeichneten Ruf und gilt weltweit als Beispiel für eine effektive Arbeit zum Schutz der Menschenrechte. Gemäß Artikel 58 der Verfassung Afghanistans von 2004 hat AIHRC die Aufgabe, im Land die Achtung der Menschenrechte zu beaufsichtigen, sie zu stärken und zu schützen.

Human Rights Watch erinnert nun im Jahresreport 2013 noch einmal daran, dass Präsident Karsai im Dezember 2011 die Mandate von drei der insgesamt neun AIHRC-Kommissionsmitglieder nicht mehr verlängerte. Auch die Stelle eines weiteren Kommissionsmitglieds, das bis dahin für Kinderrechte zuständig gewesen und bei einem Bombenattentat in Kabul mit seinen Angehörigen ums Leben gekommen war, blieb und bleibt bis heute unbesetzt. Die personelle Situation dieser so eminent wichtigen Institution ist also alarmierend.

Die Hintergründe dafür enthüllte Thomas Ruttig bereits 2011 und 2012 in Beiträgen für die Tageszeitung (taz). Sie haben offensichtlich mit einer rund 800 Seiten starken Dokumentation von AIHRC über ungesühnte Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan zwischen 1978 und 2001 zu tun. Dieses Projekt „Mapping-Report“ gehe auf den „Aktionsplan für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung“ von 2005 zurück, zu dem Karsai von afghanischen und ausländischen Menschenrechtlern gedrängt worden sei, erklärt Ruttig. „Die 800 Seiten lesen sich wie ein ,Who’s who‘ des afghanischen Establishments.“

Behördenwillkür, Schikanen und Gewalt

Publiziert wurde die „Kartierung“ der seit 1978 in Afghanistan begangenen Kriegsverbrechen und Grundrechtsverletzungen bislang noch nicht. Die Ablösung der drei AIHRC-Kommissionsmitglieder dürfte in engstem Zusammenhang mit dem Mapping-Report der Afghanischen Menschenrechtskommission stehen.

In einem Gastbeitrag für das US-Magazin Foreign Policy im Juli 2012 befasste sich auch Erica Gaston mit dem AIHRC-Projekt. Die Mitarbeiterin der US-amerikanischen Bundeseinrichtung United States Institute of Peace (USIP) schilderte frische Reiseeindrücke aus Afghanistan: „Es gibt überall im Land Anzeichen dafür, dass die Freiräume kleiner werden. Journalisten und Informanten berichten von immer größeren Schikanen – in einigen Fälle sogar von körperlichen Misshandlungen. Ebenso wurden neue Verfahren eingeführt, die eindeutig die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen und Institute beschneiden. Als ich Anfang dieses Monats in Afghanistan war, benötigten wir die Erlaubnis gleich mehrerer Ministerien, um in der Provinz die einfachsten Arbeiten ausführen zu können. Angesichts dieses bedrückenden gesellschaftspolitischen Klimas kann die Tatsache, dass der AIHRC-Report bis jetzt zurückgehalten wird, als ein starkes Signal verstanden werden. Ein starkes Signal an die Medien und Zivilbevölkerung Afghanistans: Wenn ein Report dieser Größenordnung und dieser Bedeutung nicht veröffentlicht werden kann, was überhaupt kann dann noch veröffentlicht werden?“


Hintergrund                                                

Human Rights Watch (HRW) ist eine unabhängige Nichtregierungsorganisation, die sich für den Schutz und die Verteidigung der Menschenrechte einsetzt. Die weltweit rund 280 hauptamtlichen Mitarbeiter konzentrieren sich dabei vor allem auf Recherchen und die öffentlichkeitswirksame Berichterstattung von Menschenrechtsverletzungen. In einer Selbstdarstellung der Organisation heißt es: „Indem wir die internationale Öffentlichkeit auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen, geben wir den Opfern eine Stimme und ziehen die Verantwortlichen zur Rechenschaft. Durch unsere unabhängigen Untersuchungen und die gezielte Einflussnahme auf politische Entscheidungsträger üben wir Druck aus, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden.“
Hauptanliegen der Organisation ist die Verhinderung sozialer oder geschlechterbezogener Diskriminierung, der Kampf gegen Korruption in Regierungen und gegen den Missbrauch staatlicher Gewalt (beispielsweise Folter und Isolationshaft). Ein eigener HRW-Bereich befasst sich ausschließlich mit Menschenrechtsverletzungen an Frauen. 1998 gründete Human Rights Watch zusammen mit sechs anderen Organisationen die „Coalition to Stop the Use of Child Soldiers“.
HRW war 1978 unter der Bezeichnung „Helsinki Watch“ gegründet worden, um die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki durch die damalige Sowjetunion zu dokumentieren und um sowjetische Menschenrechtsgruppen zu unterstützen. 1988 hatte sich die Initiative schließlich mit anderen internationalen Gruppierungen, die vergleichbare Ziele verfolgten, zu Human Rights Watch vereinigt.


Zu unserer Bildauswahl:
1. Mädchen und Frauen sind in Afghanistan nur „das zweite Geschlecht“, Frauenrechte werden mit den Füßen getreten. Was, wenn die westlichen Truppen dem Land den Rücken kehren und wieder die Stunde der Taliban schlägt? Die Aufnahme, die in Bagrami nahe Kabul entstand, lässt die Furcht erahnen, die viele Afghaninnen vor der Zukunft haben.
(Foto: Eric Kanalstein/UNAMA)

2. Angehörige der Afghan Local Police (ALP) in Dizhak, Provinz Farah. Im Januar 2012 hatte die ALP etwa 10.000 Mann unter Waffen, bis 2014 soll die paramilitärische Polizeihilfstruppe rund 30.000 Kräfte umfassen.
(Foto: Benjamin Addison/U.S. Navy)


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