Ende eines „Schatten-Gouverneurs“
2012
Kunduz (Afghanistan). Zweieinhalb Jahre nach dem tödlichen Hinterhalt im nordafghanischen Kunduz-Distrikt Chahar Darah, bei dem drei Bundeswehrsoldaten starben, ist der mutmaßliche Drahtzieher der Tat gefasst worden: Mullah Abdul Rahman. Den Taliban-Führer ergriffen am Abend des 19. Oktober deutsche Spezialkräfte und eine Sondereinheit der afghanischen Polizei in einem Dorf südwestlich von Kunduz. Rahman soll auch für die Entführung zweier Tanklaster im September 2009 verantwortlich sein. Die Fahrzeuge waren auf einer Sandbank im Kunduz River stecken geblieben. Es folgte die von Oberst Georg Klein angeordnete Bombardierung der Fahrzeuge, dabei starben mehr als 140 Menschen, darunter Kinder.
Mullah Rahman war im November 2009 von der Bundeswehr mit der Nummer 2242 auf die Joint Prioritized Effects List (JPEL) der NATO gesetzt worden. Diese Fahndungsliste enthält die Namen von Zielpersonen, die im Rahmen des ISAF-Targeting Prozesses zur Festnahme (Kategorie „c“; capture) oder zur Tötung (Kategorie „k“; kill) ausgeschrieben sind. Die deutsche Vorgabe im Rahmen der Teilhabe an dem JPEL-Verfahren ist eindeutig: Zielvorschläge und Zugriffsoperationen, bei denen deutsche Kräfte die Verantwortung für die Anwendung militärischer Gewalt haben oder sich daran beteiligen, dürfen ausschließlich mit der Handlungsempfehlung „Festnahme“ erfolgen.
Rahman wird nicht nur die Tankwagen-Entführung 2009 und der tödliche Hinterhalt am Karfreitag 2010, bei dem Hauptgefreiter Martin Augustyniak, Stabsgefreiter Robert Hartert und Hauptfeldwebel Nils Bruns ums Leben kamen, zur Last gelegt. Er soll in Nordafghanistan auch verschiedene andere komplexe Attacken auf die ISAF geplant und geleitet haben, verantwortlich gewesen sein für den Schmuggel schwerer Waffen in die Provinz Kunduz sowie als Koordinator beim Bau von Sprengsätzen und Selbstmordattentaten in Erscheinung getreten sein.
Die Festnahme des Taliban-Führers bestätigten am 20. Oktober verschiedene offizielle afghanische Stellen, so unter anderem General Abdul Wahid Baba Jan, Chef der Polizeizone „Pamir 303“, oder Sayed Sarwar Husseini, Polizeisprecher der Provinz Kunduz. Husseini erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: „Rahman ist mitverantwortlich für den Anstieg der Bedrohung in den Provinzen Kunduz, Takhar und Badakhshan. Er unterstützte die Aufständischen beim Bau und bei der Installation von Straßenbomben, und er schuf die Voraussetzungen für spektakuläre Anschläge auf afghanische Amtsinhaber.“
Die NATO bezeichnete Rahman als „Finanzier der Taliban“. 2010 soll er zum „Schatten-Gouverneur“ aufgestiegen sein (die Taliban haben in allen afghanischen Provinzen parallele Machtstrukturen zu denen der Regierung Karsai aufgebaut). Omid Nouripour, Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied des Verteidigungsausschusses, äußerte sich am 22. April 2010 im ARD-Politmagazin Monitor über Mullah Abdul Rahman: „Er ist einer der Hauptfeinde der Bundeswehr und damit auch der NATO im Raum Kunduz. Und deshalb ist er selbstverständlich einer, den die Soldaten mit Hochdruck suchen.“ Spiegel-Reporter Matthias Gebauer sprach im September 2010 – ein Jahr nach dem Luftschlag von Kunduz – in Afghanistan mit dem flüchtigen Taliban. In seinem Bericht über die geheime Zusammenkunft heißt es: „Seit dem Morgen des 4. September hat sich das Leben des Talib verändert. Stets auf der Flucht traut er sich aus Angst vor gezielten Raketenangriffen der Amerikaner kaum noch, das Telefon zu benutzen. Jede Nacht muss er sein Versteck wechseln. Die Jagd auf Abdul Rahman wird weitergehen: Die Bundeswehr stellte den Taliban-Kommandeur … auf eine Gesuchten-Liste und schrieb ihn damit in ganz Afghanistan zur Fahndung aus.“
Nun ist die Jagd vorüber. Der „Schatten-Gouverneur“ befindet sich zur Zeit im Gefängniskomplex des National Directorate of Security (NDS), des afghanischen Inlandsgeheimdienstes, in Haft. Rüdiger König, Deutschlands Botschafter in der afghanischen Hauptstadt Kabul, verdeutlichte der Regierung Karsai unmittelbar nach der Inhaftierung, wie wichtig eine Verurteilung Rahmans sei. Es ist anzunehmen, dass König bei diesem Gespräch auch an die drei gefallenen Bundeswehrangehörigen Bruns, Hartert und Augustyniak erinnert hat.
Die Festnahme der JPEL-Zielperson „2242“ schreibt sich übrigens offensichtlich der Bundesnachrichtendienst (BND) auf seine Fahnen. Gerhard Schindler, seit 7. Dezember 2011 als Nachfolger von Ernst Uhrlau Präsident des Dienstes, soll Pressemeldungen zufolge vor kurzem im Verteidigungsausschuss des Bundestages berichtet haben, dass der BND die entscheidenden Informationen zur Ergreifung Rahmans geliefert habe. Mit seinen rund 50 Mitarbeitern, die sich in Afghanistan ständig um den Schutz der Bundeswehr sorgen, habe der Nachrichtendienst seit Januar 2011 zudem 20 Anschläge auf die Truppe vereiteln können, so Schindler den Presseinformationen zufolge vor dem Ausschuss.